Kapitel 28

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Es war 22 Uhr und Kilian und ich verließen gerade die Bibliothek. Ich musste gestehen, dass ich gerne noch länger geblieben wäre, wenn sie nicht schließen würden.

Wir standen uns gegenüber und keiner wusste so genau, was er sagen sollte.

„Vielen Dank, Kilian."

Er lächelte mich müde an. Mein Herz hüpfte wie verrückt und ich konnte genau fühlen, wie jeder Teil meines Körpers sich erwärmte.

„Du brauchst dich nicht zu bedanken", flüsterte er. Doch ich konnte genau sehen, dass er erschöpft war.

„Natürlich brauche ich das." Ich lächelte. „Und wenn du mal Hilfe in anderen Fächern brauchst, kannst du auch immer zu mir kommen."

„Und du bist dir sicher, dass du das kannst?", neckte er mich.

„Das kannst du ja dann herausfinden." Ich strahlte ihn glücklich an.

„Das werde ich", erwiderte Kilian und sah dann an mir vorbei.

Eine Gruppe von Jugendlichen grölte laut hinter uns. Keine Ahnung ob die betrunken oder high waren, aber nüchtern verhielten die sich definitiv nicht.

„Komm, ich bringe dich nach Hause", bot Kilian mir an.

„Das brauchst du wirklich nicht. Geh nach Hause und ruh dich aus, Kilian."

„Vergiss es", erwiderte er lediglich und begleitete mich dann nach Hause.

Die meiste Zeit war es ruhig. Wir beide waren viel zu beschäftigt damit unseren eigenen Gedanken nachzugehen.

Kilian gefiel mir immer mehr. Und ich fragte mich, wie weit meine Gefühle noch gehen würden. Schließlich fingen wir gerade erst an, uns gut zu verstehen und schon waren meine Gedanken ständig nur bei ihm.

Ich sah kurz rüber zu ihm und lächelte. Ich hätte nie gedacht, dass Kilian mir bei irgendwas helfen würde, geschweige denn mich nach Hause begleiten würde. Und dass es gerade tatsächlich passierte, machte mich glücklich.

„Chloe?", flüsterte Kilian meinen Namen und hatte somit wieder meine volle Aufmerksamkeit.

„Ja?"

Er seufzte. „Die Geschichten über Veronika sind nicht wahr. Jedenfalls nicht alle."

Mein Herz setzte für einen Moment aus. Wollte er mir etwa sagen, was wirklich passiert war?

„Und was ist dann die Wahrheit?"

Kilian blieb für einen Moment still. Vielleicht war er am überlegen, ob er es mir sagen sollte, oder nicht. Vielleicht bereute er auch, dass er es überhaupt angesprochen hatte.

„Sie hat immer gesagt, dass sie mich geliebt hat. Ich konnte es aber nicht erwidern und habe immer gehofft, dass sie es irgendwann verstehen würde. Doch sie hat mich nicht in Ruhe gelassen. Wirklich nie. Egal wo ich hingegangen bin, dort war sie auch. Egal was ich mochte, das mochte sie plötzlich auch."

Kilian seufzte und schaute auf seine Hände, bevor er weiter sprach. „Ich kannte sie nicht einmal wirklich und trotzdem hat sie mich immer angerufen und mir immer geschrieben. Sogar nachts. Ich bin daraufhin zu ihr gegangen und habe ihr gesagt, dass sie mich in Ruhe lassen soll. Vielleicht war ich etwas zu hart zu ihr, aber wie sollte ich denn reagieren, wenn sie mich wochenlang belästigt? Jedenfalls ist sie dann plötzlich weggezogen, ich habe sie nicht mehr gesehen und sie hat mir auch nicht geschrieben."

Kilian sah geradeaus und schien nachdenklich zu sein. „Irgendwann war ich unterwegs, als sie mir plötzlich wieder geschrieben hat. Ich hatte sie auf WhatsApp blockiert, aber dann hat sie mir auf Facebook geschrieben. Sie hat gesagt, dass sie bei mir zu Hause war. Dass sie meine kleine Schwester mitgenommen hätte."

Geschockt sah ich Kilian an. Wie bitte? Das konnte doch unmöglich wahr sein.

„Ich habe nie jemandem irgendetwas über meine Familie erzählt. Sie muss mich beobachtet haben, bis sie es herausgefunden hat. Jedenfalls bin ich direkt nach Hause gefahren, doch meine Schwester war wirklich nicht mehr da. Sie hat sie einfach mitgenommen. Also habe ich die Polizei angerufen und meinen anderen Bruder, der ebenfalls bei Freunden war."

Ich konnte nicht fassen, was Kilian mir gerade erzählte. Veronika soll wirklich seine Schwester entführt haben?

„Wir haben ewig nach ihr gesucht. Ich war müde, meine Augen haben sich die ganze Zeit von selber geschlossen und ich musste mich immer irgendwo festhalten, damit ich nicht umfiel. Doch ich wusste, dass ich nicht aufgegeben hätte, bevor ich sie gefunden hätte. Ich habe Veronika angerufen und sie hat mir gesagt, dass ich meine Schwester wieder sehen werde, wenn ich ihr eine Chance gebe. Ich hatte keine andere Wahl außer zuzusagen."

Kilian schaute in die Ferne und so langsam musste ich realisieren, dass die Gerüchte über ihn absoluter Schwachsinn waren. Und irgendwie tat es mir nun verdammt Leid.

„Ich habe mich noch mit ihr an diesem Abend getroffen. Natürlich habe ich die Polizei mitgenommen und sie haben sie verhaftet. Meine Schwester haben wir dann in ihrem neuen Haus wieder gefunden. Ich glaube, ich hätte mir nie verziehen, wenn ihr etwas passiert wäre. Jedenfalls wurde Veronika nicht ins Gefängnis gebracht, sondern in eine Psychiatrie. Sie hat beim Gerichtstermin nämlich die ganze Zeit geschrien, dass sie sich umbringt, wenn ich sie nicht liebe. Sie wurde also als unzurechnungsfähig eingestuft."

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war sprachlos. Und ich wollte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was für Gedanken Kilian sich ständig bei neuen Menschen machen musste. Und dann auch noch die bescheuerten Gerüchte, die ihn fast als Schuldigen darstellten.

Also blieb ich stehen und nahm Kilian in den Arm. Denn ich hatte das Gefühl, dass er es vielleicht brauchte.

Und tatsächlich erwiderte er es und ich legte meinen Kopf auf Kilians Brust. Und so standen wir einige Minuten. In der absoluten Stille. Und das reichte vollkommen, denn manchmal waren Gesten wichtiger als irgendwelche Worte.

Den Rest des Weges schwiegen wir und das war auch gut so.

Vor meiner Haustüre sah ich wieder zu Kilian und schenkte ihm ein Lächeln. „Ich danke dir für alles Kilian, wirklich. Und es tut mir so unfassbar leid, dass du sowas durchstehen musstest."

Auch wenn ich es später bereuen würde, legte ich meine Hand an seine Wange. „Du kannst immer zu mir kommen, ich verspreche es dir", flüsterte ich.

Kilian sah mich genau so intensiv an, wie ich ihn. Ich konnte meine Augen einfach nicht von ihm lassen. Adrenalin schoss durch meinen ganzen Körper, denn ich wollte ihn in dem Moment einfach nur küssen. So sehr wollte ich seine Lippen auf meinen spüren und seine Nähe genießen.

Doch das war wirklich der falsche Augenblick, deswegen nahm ich meine Hand wieder zurück.

„Gute Nacht, Chloe", flüsterte Kilian und drehte sich um.

Ich schaute ihn noch hinterher, bis er vollkommen verschwunden war.

„Gute Nacht, Kilian."

KilianWo Geschichten leben. Entdecke jetzt