XXXI

43 4 0
                                    

Thranduil folgte Lóriels Handbewegung mit den Augen und stellte mit Erstaunen fest, dass der Flur wie das ganze Haus sein altes, vermodertes Aussehen abgelegt hatte. Die Wände bestanden nun aus braunem Holz, ihre Füße standen auf einem roten Teppich. Durch mehrere kleine Fenster oben in der Wand fiel Licht in die kleine Hütte, die nun ein äußerst gemütliches Aussehen hatte. Wer auch immer diese Lóriel war, sie war mächtig in der Magie der Elben, wenig verwunderlich, wenn man bedachte, dass sie aus dem untergegangen Reiche Thingols, einer der großen Elbenfürsten des Ersten Zeitalters, stammte. Ohne zu zögern folgte er ihr in ein angrenzendes Zimmer, das offenbar als Speisesaal diente. Das Zimmer wurde dominiert von einem elegant geschnitzten Tisch aus hellem Holz, an dem sieben Stühle des selben Holzes standen, einer an der Stirnseite des Tisches und je drei an den langen Seiten. Die Wände waren mit feinen Wandteppichen behangen, die Ereignisse aus den tausenden Jahren der Geschichte Mittelerdes zeigten. Der Tisch war bereits gedeckt, mehrere Kerzen erhellten den Raum. Der Stuhl, der an der Stirnseite des Tisches stand, war bereits besetzt: Ein zweiter Elb saß darauf, ebenso uralt und jung wirkend wie Lóriel. Als er Thranduil und die übrigen Gefährten eintreten  sah, erhellte sich sein Gesicht und er erhob sich aus seinem Sitz.
“Willkommen, liebe Freude“, sagte der Elb mit warmer Stimme und breitete die Arme aus. “Nehmt Platz und ruht euch aus! Das Essen ist bereitet, wir wollen sogleich beginnen.“
Als er Thranduils fragenden Blick bemerkte, schmunzelte der Elb kurz und fuhr sich durch sein graues Haar. “Wie ich sehe, hat meine Frau mich euch noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lindolór und auch ich stamme aus dem Reiche Doriath.“
Thranduil nickte bloß und setzte sich an den Platz, den Lindolór ihm wies. Nach den gewaltigen Anstrengungen der vergangenen Tage hatte er nun nichts mehr nötig als ein wenig Ruhe. Als alle Platz genommen hatten, tat Lóriel ihnen allen aus der dampfenden Schüssel auf, die in der Mitte des Tisches stand. Thranduil machte sich wie der Rest der Gefährten über den köstlichen Eintopf aus Kartoffeln und Pilzen her. Seit Wochen hatten sie nichts Heißes mehr gegessen, stets hatten sie in Angst vor den Orks leben müssen. Umso besser tat ihnen nun dieser nahrhafte Eintopf, sodass sie alle mindestens drei Teller davon aßen. Dann sanken sie gesättigt in ihre Stühle, abwartend, was nun geschehen würde.
“Ich sehe, dass euch Fragen quälen“, stellte Lindolór schmunzelnd fest, als sie alle fertig gegessen hatten. “Stellt sie ruhig, wir werden eure Lücken schließen.“
Für einen kurzen Moment war es vollkommen still im Raum, dann begann Aiya zögerlich: “Ihr sagtet, ihr würdet uns den Weg zu Morgoth weisen...“
“Dieser Weg führt euch weit in den Westen, durch halb Mittelerde“, antwortete Lóriel. “Der gefallene Valar hat seine dritte Festung in den Tiefen der Blauen Berge errichtet, dem Meer zugewandt, südlich der Stelle, an der die Wasser des Lhûn dem kalten Gestein entspringen.“
Aiya nickte bloß. Sie alle konnten sich in etwa vorstellen, wohin ihre Reise weiterging.
“Wer seid ihr?“, platzte es aus Durin heraus, der bis jetzt vollkommen still gewesen war.
Lóriel lächelte leicht, bevor sie ihm Antwort gab. “Dieser Tage sind wir zwei alte Elben, die in den Träumen derer erwachen, die dafür bestimmt sind. Einst, vor der Niederlage Melkors und vor dem Untergang Beleriands war mein Name Nellas, eine kleine, unbedeutende Dienerin des König Thingol.“
“Der König schickte uns mit einem wertvollen und überaus wichtigen Auftrag gen Osten, hinter die blauen Berge. Zu dieser Zeit war ich Dairon, Sohn des Thingol und der Maia Melian und Bruder von Lúthien Tinúviel, doch heute bin ich ein schlichter Sänger in den Träumen anderer.“
“Was war das für ein Auftrag, dass König Thingol euch bis über die Blauen Berge sandte?“, fragte Thranduil erstaunt.
“Kurz vor seinem Tod gab mir mein Vater dies“, sagte Lindolór und zog eine kleine Schriftrolle hervor. “Er meinte, es dürfe niemals Melkor in die Hände fallen.“
“Er wies uns an, diese Rolle aus Beleriand heraus und in sicherere Gegenden zu bringen“, ergänzte Lóriel. “Damals ließen wir uns hier nieder und haben diesen Ort seit tausenden Jahren nicht mehr verlassen.“
“Was ist das für eine Rolle?“, fragte Alassen interessiert.
“Auf dieser Rolle, Alassen, Eldarions Sohn, stehen Botschaften der Valar, Prophezeiungen für die, die das Dunkel östlich des Großen Meeres bekämpfen“, erklärte Lindolór. “Sie ist der zweite Grund dafür, dass ihr nun hier seid. Auch für eure Unternehmung ist eine Botschaft vermerkt und erst wenn ihr diese gehört habt, werdet ihr verstehen, was euch auf dieser Reise bisher geschehen ist und ihr werdet gewappnet sein für all die Schwierigkeiten und die große Dunkelheit, die ein jeder von euch durchschreiten wird.“
Bleierne Stille herrschte im Raum, bis Tingilya fragte: “Wie lautet sie, die Botschaft?“
Als Antwort stand Lindolór auf, trat neben Tingilya und überreichte ihr die Rolle. Mit zitternden Fingern entrollte sie das Stück Papier und besah es sich genauer. Trotz seines gewaltigen Alters war das Papier nach wie vor fest und zeigte keinerlei Anzeichen von jeglichem Alter. Unzählige Schriftzeichen waren klein darauf angebracht und auch wenn sich die Rolle als erstaunlich lang erwies, schien jeder Fleck darauf beschrieben zu sein. Die Rolle gliederte sich in drei Spalten mit verschiedenen Blöcken. Als Tingilya einen genaueren Blick darauf warf, erkannte sie Wörter des Quenya, des Sindarin sowie der inzwischen verschollenen Sprache des Andûnaïsch, der Sprache der Dúnedain. Sie überflog die Wörter, als ihr im unteren Teil der Rolle ein Text auffiel, der ihr augenblicklich ins Auge stach. Leise überflog sie den Text, dann schnappte sie nach Luft. Diese Botschaft war für sie alle bestimmt, dass wusste Tingilya genau.
“Was steht da?“, brummte Durin ungeduldig und mit großer Anspannung in der Stimme. Die Augen aller lagen nun fragend auf Tingilya, die noch einmal schluckte. Sie las den Text ein zweites Mal und übersetzte ihn in Gedanken ins Westron. Dann trug sie ihn vor und es schien allen, als würde ihre klare, laute Stimme die drückende Stille im Raum durchschneiden.
Es gingen einst sieben Gerechte,
dem Dunkel der finstersten Mächte,
die Krone der Macht zu entziehen
und der langen Nacht zu entfliehen.
Gezogen vom Mythos des Einen,
der ging, die Völker zu vereinen,
wird der Tod sie noch alle ereilen,
die Mächte des Bösen zu teilen.
Zwei trafen sie auf ihren Reisen,
die ihnen den rechten Weg weisen,
der führt sie durch manch böse Stätten,
durch Dunkelheit, Feuer und Ketten.
Der letzte der sieben Gerechten,
wird den Bösen von der Erde ächten,
das Opfer der allzeit Geringen,
lässt den Ruf aus dem Westen erklingen.

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWhere stories live. Discover now