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Théoden atmete tief durch, immer noch etwas erschöpft von ihrer hastigen Flucht aus dem Stollen, die jetzt fast eine halbe Stunde zurücklag. Er hatte keine Ahnung, was sie dort verfolgt hatte oder was dieser Ork mit dem “starken Anführer“ gemeint hatte, doch sie waren ihm nur knapp entkommen. Nun hatten sie hier, etwa eine Meile vom Ausgang des Stollens entfernt, Rast gemacht, um sich etwas von dieser kräftezehrenden Flucht zu erholen. Der Hobbit lag immer noch ohnmächtig bei ihnen, schon seit Théoden ihn auf den Rücken genommen hatte, um ihn schnellstmöglich aus dem Stollen zu tragen, hatte er sich nicht mehr bewegt. Tingilya kümmerte sich um ihn, sie wusste von den Gefährten am besten um die Heilkraft der hier wachsenden Pflanzen und Kräuter. Théoden saß nun etwas abseits von den anderen, die sich an einem kleinen Bach niedergelassen hatten und dachte nach. Fast zwei Wochen waren sie unterwegs und waren doch erst in seiner Heimat, in Rohan, angekommen. Hinter ihnen lagen die letzten Ausläufer der Ered Nimrais, vor ihnen erstreckte sich die hügelige Steppe der Ostfold. Wäre der Himmel nicht wie bereits seit vielen Wochen von schwarzgrauen Wolken verhangen, würde er am Horizont im Westen wohl die Goldene Halle von Edoras in der Sonne aufleuchten sehen. So fremd hatte sich Théoden in seiner Heimat noch nie gefühlt, doch dieser Gedanke löste in ihm keine Wut, doch ein großes Maß an Traurigkeit aus. Vor zwölf Jahren hatte er seine geliebte Frau verloren, nun seinen Bruder und sein Land. Er fühlte sich so einsam wie nie, trotz der sechs Gefährten, die wenige Meter von ihm entfernt zusammensaßen. Er stützte seinen Kopf in seine Arme, als sich jemand neben ihn setzte. Langsam drehte er seinen Kopf nach links und sah dort Aiya sitzen, die ihn aus seinen grauen Augen besorgt anblickte.
“Es muss schwer sein für dich“, sagte sie sanft, ganz entgegen ihrer sonst so ungestümen Art. “Natürlich, auch ich habe mein Land verloren, doch wenigstens weiß ich meinen Bruder bei mir, in Sicherheit.“
Théoden war überrascht von der Leichtigkeit, mit der sie ihn durchschaut hatte. Nie hatte er auch nur ein Wort über seine Probleme gesagt.
Mit einem sanften, aber auch belustigten Lächeln sah ihn die Prinzessin von Gondor an. “Du bist ein offenes Buch, Théoden, zumindest für den, der dich zu lesen versteht.“ Mit einem Ruck stand sie auf und sah ihn an. “Komm, setz dich zu uns. Der Hobbit wird jeden Moment aufwachen und hat sicher eine Menge zu erzählen.“
“Danke, Aiya“, sagte Théoden und lächelte schwach. “Gib mir noch einen Moment.“
Lächelnd ging Aiya zurück und ließ Théoden mit seinen Gedanken wieder allein. Er war sich nicht sicher, was er von diesem sehr kurzen und einseitigen Gespräch halten sollte, doch er spürte ein kleines Feuer in seinem Inneren, das ihm Wärme spendete. Vielleicht war er weniger einsam, als er sich einbildete.

“... jedenfalls bin ich dann so schnell es ging aus dem Museum raus“, erzählte Tino gerade.
Der junge Hobbit war inzwischen aufgewacht und nach einer kleinen Stärkung wieder zu Kräften gekommen und hatte sich ihnen vorgestellt. Sein Name war Tino Horrat und er war vor wenigen Wochen aus dem Auenland geflohen. In der Nähe einer Stadt in den Bergen, die die Gefährten als Edoras identifiziert hatten, hatten ihn Orks gefangen genommen, als er versucht hatte, etwas Brot von einem kleinen Bauernhof zu stehlen. Nun saß er hier, erschöpft und immer noch etwas verängstigt und erzählte von seinen Erlebnissen.
“Unterwegs bin ich hin und wieder auf Menschen gestoßen, aber nicht so Menschen, wie ihr es seid, sondern böse Menschen, schmutzig und verwahrlost“, sagte Tino. “Wie kann ein Mensch sich solch Bösem zuwenden?“
“Es gibt eine Geschichte, noch keine zweihundert Jahre alt, die von solchen Menschen erzählt“, antwortete Alassen mit bedeckter Stimme. “Sie stammt aus Umbar, aus dem Land der Korsaren. Bis heute weiß keiner, was an dieser Geschichte wahr und was bloß Legende ist. Sie erzählt von einem großen Krieger, für alle Menschen umbekannt und doch so groß und mächtig, wie man keinen Krieger davor und danach sah. Er scharrte viele Menschen um sich, allesamt enttäuscht von der Macht, die sie an Gondor verloren hatten. Er erzählte ihnen von einem Reich im Westen, hinter dem Meer, dass noch viel größere Schätze, viel mehr Ruhm und Macht versprach. Als das Wetter günstig war, fuhren sie nach Westen, über zweitausend Männer auf fünfzig Schiffen. Keiner von ihnen kehrte je zurück, auch fand man weder Leichen noch die Wracks der Schiffe. Doch wenige Tage später meinten Fischer einen gewaltigen schwarzen Vogel leuchtend über den Himmel fliegen zu sehen. Man sagt, dass dies jener Krieger gewesen sei, der die Menschen Umbars ins Verderben geführt hatte und der einen Schatz von unglaublichem Wert gefunden hatte.“ Alassen legte eine kurze Pause ein. Es war vollkommen still um ihn herum geworden. “Der Mensch verlangt immerzu nach mehr Macht, er hängt sein Herz daran, so wie der Zwerg das seine an Gold oder Edelsteine. Viele Menschen wurden so zum Dunkel des Bösen verführt und dieser Machthunger im Menschen wird niemals erlöschen.“
“Das ist der Grund, warum Morgoth uns Elben mehr fürchtet als jedes andere Volk“, erklärte Celeborn. “Menschen und Zwerge kann er für seine bösen Absichten gewinnen, doch die Elben können seinen Versuchungen widerstehen.“
“Warum bekämpft ihr ihn dann? Warum gibt es dann Menschen und Zwerge, die sich gegen ihn stellen?“, fragte Tino mit schwacher Stimme.
Zum ersten Mal an diesem Abend lag Théoden ein warmes Lächeln auf dem Gesicht. “Nicht alle Menschen sind so schwach, dass sie den Versuchungen des Bösen verfallen. Húrin, der Vater des großen Túrin Turambar hat diesem Drang nach Macht standgehalten, genau wie Alassens und Aiyas Großvater Aragorn und unzählige weitere Menschen und Zwerge.“
Tino nickte nur, dann gähnte er herzhaft auf. “Auch wenn ich erst wieder erwacht bin, wünsche ich mich schon wieder ins Land der Träume zurück.“ Ein mattes, erschöpftes Lächeln lag auf seinen Lippen.
“Wir sollten alle schlafen, bevor die Nacht zu weit voranschreitet“, meinte Thranduil. “Ich werde zusammen mit Alassen die erste Wache übernehmen, ihr solltet euch einen Platz zum Schlafen suchen.“
Zustimmendes Gemurmel bestätigte den Vorschlag des Elben und nur wenige Minuten später erfüllte ein rhythmisches Schnaufen die kühle Abendluft.
“Die Orks sind nicht fern, Alassen“, sagte Thranduil bestimmt, aber mit ruhiger Stimme. “Wir können uns nicht noch einmal so aufhalten lassen.“
“Ich weiß“, antwortete Alassen. “Tino wird dieses Tempo nicht lange durchhalten können. Er ist erschöpft und noch längst nicht genesen.“
“Auch können wir ihn nicht die ganze Zeit tragen“, meinte der Elb und stützte seinen Kopf in seine Hände. “Er wird uns verlassen müssen, doch welch sicheren Ort gibt es noch in dieser Welt?“ Der Schmerz, der Thranduils Worte durchdrang, war deutlich herauszuhören. Sie alle hatten in den vergangenen Wochen so viel verloren, es war schwer, dies zu verarbeiten.
“In zwei bis drei Tagen werden wir Edoras passieren, dann Helms Klamm und die Pforte von Rohan. Wenn wir schnell sind, können wir in zwei Wochen den Fangorn-Wald erreichen und ich hörte, dass die Ents dort den Hobbits wohlgesonnen sind“, sagte Alassen schwermütig.
“Morgoth weiß um die Macht, die in den alten Wäldern dieser Welt lebt“, antwortete Thranduil. “Er wird sie nicht besetzen, bevor nicht jeglicher Widerstand niedergeschlagen ist.“
“In zwei weiteren Wochen können wir Moria erreicht haben“, sagte Alassen, dann blickte er starr in die Ferne. “Und dann hoffen wir, dass Khazad-dûm uns offensteht. Was bleibt uns mehr als die Hoffnung?“
“Mein junger Freund, lass dir gesagt sein: In all den Jahren ist mir keine größere Waffe begegnet als die der Hoffnung.“ Ein Lächeln hatte sich auf Thranduils Gesicht gebildet. “Von dieser Waffe haben wir genug.“

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon