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Langsam stieg Cugulim die Stufen zum Thronsaal Gondors hinauf. Fast eine Woche war er nun nicht mehr hierher gerufen worden, doch trotzdem war ihm jeder Schritt vertraut. Während sich in den unteren Ebenen Minas Tiriths einiges geändert hatte, war dieser höchste Ring von den Orks nahezu ungerührt geblieben. Wäre die Mitte des Vorplatzes nicht so erschreckend leer und die Gesichter der Wachen nicht so grässlich verzerrt, könnte man fast meinen, dass alles so wie immer war, ein ganz normaler Wintertag in Gondor. Und doch konnte das alles Cugulim nicht die Beklommenheit nehmen, die ihn dominierte. Auch wenn ihm hier oben ein Wohnbereich gegeben worden war, der einst dem Anführer der Palastwache gehört hatte, so ging er doch ab und zu durch die Stadt. Das Bild, dass sich ihm dort geboten hatte, hatte ihn zutiefst schockiert. Die einst so wundervollen Fassaden der Weißen Stadt waren entweder zerstört oder beschmiert worden, die glamourösen Statuen und Säulen, die von der Macht vergangener Könige und Herren Gondors zeugten, lagen zerschellt am Boden. Manche dieser Gebilde waren durch hässliche Fratzen und grausame Banner ersetzt worden, die ein flammendes oranges Auge mit schlangenhafter Pupille oder eine schwarze Krone mit drei leuchtenden Steinen darin zeigten. Die Stadt war bevölkert von hunderten Orks, die Cugulim bei jedem Schritt einen misstrauischen Blick hinterherwarfen. Vereinzelt sah er auch Menschen, versklavt und verbittert. Einem von ihnen hatte Cugulim helfen wollen, als dieser die Last eines der Trümmerteile nicht tragen konnte. Für seine angebotene Hilfe hatte er nur einen hasserfüllten Blick und wüste Beschimpfungen wie "Verräter" oder "Orksbrut" erhalten. Er hatte damit gerechnet, dass er nun ein Geächteter unter den Menschen sein würde und dennoch hatte ihn dieses Erlebnis zutiefst bestürzt.
Die gewaltigen dunklen Flügel des Eingangstores flogen vor ihm auf und Cugulim trat in den Thronsaal. Wie immer umgab ihn vollkommene Stille und dieses Mal war der große Raum auch nahezu leer. Kein Tisch stand in der Mitte, nur der breite Läufer bedeckte den Boden. Ganz am Ende des Raumes, auf einem hohen hölzernen Stuhl, saß Túranto. Man hatte seinen Stuhl zu Füßen des Thrones aufstellen lassen, sodass es aussah, als wäre in Gondor wieder die Zeit der Truchsessen angebrochen. Langsam ging Cugulim auf Túranto zu. Überrascht stellte er fest, dass sämtliche Statuen der Könige Gondors im Thronsaal noch standen, teilweise waren sie sogar repariert worden, hatte der Angriff der Orks ihnen doch einigen Schaden zugefügt. Kein einziger Ork war hier im Saal zu sehen, nur Cugulim selbst und Túranto hielten sich hier auf. Cugulim wusste nicht, was ihn nun erwarten würde, er war von einem Ork hierher gerufen worden, weil der Herr ihn sehen wollte. Auch wenn Cugulim auf Schritt und Tritt spürte, dass die Orks ihn verachteten und hassten, so schien ihr Respekt, ja ihre Furcht vor ihrem Herren Túranto noch größer zu sein. Kein Ork hatte bisher gewagt, ihn anzugreifen oder zu bedrohen. Als Cugulim nun vor der schwarzen Gestalt stand, wurde ihm wieder einmal bewusst, warum diese erbärmlichen Gestalten diesen hier fürchteten. Von seiner Person ging eine Macht und Ausstrahlung aus, die Cugulim nicht einmal in der Königsfamilie Gondors gespürt hatte. Es war nahezu unmöglich, sich Túranto nicht zu unterwerfen. Cugulim blieb zwei Meter vor dessen Stuhl stehen und blickte in Túrantos gelbe Augen. So viel Macht, so viel Stärke ging von diesem Blick aus, dass es Cugulim unmöglich war, der stummen Aufforderung zu widerstehen. Widerwillig sank er auf die Knie.
"Ihr habt mich gerufen?", sagte Cugulim und auch wenn er kraftvoll hatte sprechen wollen, klangen seine Worte mehr wie eine ängstliche Frage als eine starke Aussage.
"In der Tat, das habe ich", antwortete Túranto mit dröhnender Stimme und bedeutete Cugulim aufzustehen. "Ich habe einen wichtigen Auftrag für euch."
"Was wünscht ihr von mir?", fragte Cugulim. Er musste schlucken. Bisher hatte ihm sein neuer Herr noch nicht einmal zu sich gerufen, nun sollte er sogar einen Auftrag übernehmen.
Als Antwort lächelte Túranto nur, dann hörte Cugulim, wie sich das Tor hinter ihm laut knirschend öffnete. Herein traten vier Orks, die weitere drei Gestalten mit sich zogen. Ihre ehemals elegante Kleidung war zerfetzt, ihre Gesichter eingefallen und ihre Rücken krumm unter der Last des Alters und der brutalen Behandlung durch die Orks in den letzten Wochen. Als Cugulim die drei Istari erkannte, nahm sein Gesicht einen entsetzten Ausdruck an. Auch wenn eindeutig zu sehen war, dass die drei Personen, die soeben die Mitte des Raumes passierten, die früheren Verteidiger der Freiheit Mittelerdes waren, so fiel es Cugulim doch schwer, in diesen jämmerlichen, gebeugten Gestalten die kraftvollen Maiar zu sehen, die er kennengelernt hatte. Túranto winkte ihn an seine Seite und erneut musste Cugulim schlucken. Wie würden die Maiar reagieren, wenn sie ihn hier, neben dem Diener Morgoths, stehen sahen? Inzwischen waren die sieben Gestalten vor Túranto angekommen. Grob stießen die Orks die drei Istari zu Boden, dann winkte Túranto sie hinaus. Als das Tor zufiel, herrschte für einen kurzen Moment Stille im Thronsaal. Dann, langsam, aber bestimmt, hob der mittlere Istari das Gesicht. Sein weißes Haupthaar fiel ihm in schmutzigen Strähnen auf die Schultern, die wie der Rest seines Körpers in ein zerrissenes und fleckiges Gewand aus dunkelblauem Stoff gehüllt war. Sein weißer, brustlanger Vollbart hing zerzaust herab und sein faltiges Gesicht war mit roten Striemen verziert. Einzig die hellblauen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen strahlten wie am ersten Tag eine Entschlossenheit und Kraft aus, die der Rest seines Körpers inzwischen verloren hatte. Als sich diese blauen Augen auf Cugulim richteten, huschte ein sanftes Lächeln über Alatars Gesicht. Offenbar war er weder überrascht noch schockiert von der Tatsache, dass Cugulim neben Túranto stand. Dann glitt Alatars Blick zu Túranto zurück und seine warmen Augen wurden hart.
"Was wollt ihr, Diener Morgoths?", fragte er mit zusammengekniffenen Zähnen. Offenbar konnte er seine Wut nur mühsam unterdrücken.
"Hilf ihnen auf", sagte Túranto zu Cugulim, ohne auf die Frage des Istari einzugehen. Sofort ging Cugulim zu den drei kümmerlichen Gestalten hin und richtete sie auf. Alle waren sie gebrechlich und schwach geworden, doch hatten die Orks es nicht geschafft, ihren Willen und ihre Entschlossenheit für den Kampf für das Gute zu brechen.
"Keine Sorge, Marinethar, du wirst erfahren, welchen Dienst du mir erweisen kannst", sagte Túranto höhnisch, als Cugulim wieder neben ihm stand. Für einen Moment wunderte sich Cugulim darüber, dass Túranto den ursprünglichen Namen des Maiar kannte, doch Alatars harsche Antwort unterbrach seine Gedanken.
"Denkt nicht, dass wir euch oder dem gefallenen Valar jemals dienen werden."
"Ich fürchte, diese Entscheidung liegt nicht bei euch", antwortete Túranto dunkel. "Als ich diese Stadt einnahm habe ich euch versprochen, dass ihr sie nur als Gefangene Melkors wieder verlassen werdet. Diese Zeit ist nun gekommen."
Überraschung war in den Augen der Istari zu sehen. Offenbar hatten sie diese Wendung der Ereignisse nicht erwartet.
"Ihr werdet nach Gorothos übersandt, zur neuen Festung des Herrschers von Mittelerde", fuhr Túranto fort. "Cugulim wird mit einer Gruppe von Orks nach Gorothos reisen und euch Melkor übergeben. Der Dunkle Herrscher selbst wird dort über euch Gericht halten."
Ein bitteres Lächeln stahl sich auf Cugulims Gesicht. Geächtet bei den Menschen Gondors sollte er nun auch noch die größten Soldaten des Lichtes an Morgoth übergeben? Abermals zwangen ihn seine Gedanken zum Schlucken, doch aus Alatars Gesicht sprach nur ein sanftes Lächeln.
"Morgen früh werdet ihr aufbrechen", ergänzte Túranto, dann nickte er zufrieden. "Und nun hinaus."

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWhere stories live. Discover now