XXIX

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Hektisch sah Aiya sich um. Der Nebel hatte sich inzwischen weitestgehend gelichtet, Aiya hatte klaren Blick auf die Umgebung. Seit Thranduil die Laute der Orks vernommen hatte, war bestimmt eine halbe Stunde vergangen und auch wenn sie seitdem nichts mehr von ihren Verfolgern gehört, spürte Aiya, dass sie nach wie vor hinter ihnen her waren. Wenn die Orks noch in ihrer Nähe waren, würden sie sie schon bald entdeckt haben, denn der Nebel hatte die Gefährten zwar auch in ihrer Orientierung behindert, ihnen zugleich aber Schutz vor den neugierigen Blicken der Orks gegeben. Hier in der Gegend schien es jedoch keinerlei Möglichkeiten zu geben, sich vor den Orks zu verbergen. Das ganze Land war eine einzige flache Steppe, nur im Norden fand man Bäume und die Hügel, die den Beginn des Nebelgebirges anzeigten. Aiya blickte sich nach allen Seiten um, als sie vor sich auf einmal einen kleinen dunkelgrünen Fleck vernehmen konnte. Die weißen Nebelschwaden zogen sich weiter zurück und Aiya erkannte, dass sich am Horizont der große Nadelwald erstreckte. Sie waren offenbar weiter nach Norden vorgestoßen als gedacht und Aiya wusste, dass sie, wenn sich der Nebel vollständig verzogen hatte, sogar die Silhouette des kleinen Westausläufers des Nebelgebirges, den man im Norden oft als den Steinernen Wall bezeichnete, am Horizont hinter dem Wald erkennen konnte. Auch die ersten der grün bewachsenen Hügel, die sich in Richtung Norden immer weiter häufen, konnte sie erkennen. Womöglich waren diese kleinen Erhebungen ihre einzige Möglichkeit, sich vor den Orks zu verbergen. Hastig setzte sie ihren Weg fort, immer weiter gen Norden, hinter sich die anderen Gefährten. Inzwischen hatte sich der Nebel so weit verzogen, dass schon fast die grauen Wolken über ihnen zu sehen waren. Von den Orks war nach wie vor nichts zu sehen, doch Aiya wusste, dass sie sie immer noch verfolgten. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie entdeckt wurden. Aiya rannte so schnell sie konnte über die grünen, gefrorenen Grashalme. Langsam spürte sie, wie sich die Erschöpfung in ihr breitmachte. Hinter ihr erklang ein lauter, kurzer Ruf, der sie für einen Moment aus der Bahn warf.
“Orks“, schrie Durin laut und Aiya konnte die Panik in seiner Stimme hören. Verbissen sah sie wieder nach vorne. Die Hügel lagen noch eine halbe Meile vor ihr, sie waren ihre einzige Rettung. Ein Kampf auf offener Ebene würde für viele, wenn nicht alle unter ihnen, den Tod und damit das Scheitern ihrer Mission bedeuten. Sie durften nicht scheitern, nicht so kurz vor diesem ersten Ziel. Aiya spürte, wie der Boden langsam anstieg. Gekonnt wich sie nach rechts aus und rannte zwischen den Hügeln hindurch. Nun hatte sie einen besseren Überblick über die Gegend vor ihr. Die Hügel waren mit Gras bewachsen und allesamt maximal fünf Meter hoch. Ein jeder Hügel sah aus wie die exakte Kopie eines anderen, ein jeder von ihnen war nahezu kreisrund, schmale Wege führten hindurch. Aiya steuerte nach links, lief in Haken durch die Erhebungen und bewegte sich immer weiter nach Westen. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass dort das Ziel ihrer Reise lag. Sie warf einen kurzen Blick nach hinten. In einigem Abstand folgten die Gefährten, ganz am Schluss Thranduil. Von den Orks war nichts zu sehen. Als Aiya ihren Blick wieder nach vorne wandte, traf sie fast der Schlag. Sie hatten das Hügelland verlassen, vor ihr lag wieder die flache Steppe Rhudaurs. Rechts von ihr konnte sie in weiter Ferne den Wald erkennen, hinter ihr lagen die letzten Ausläufer der Hügel. Eine Rückkehr war ausgeschlossen, aus dieser Richtung kamen die Orks. Einfach weiterzulaufen schien ebenfalls keine Option zu sein, auf der Ebene hätten die Orks sie in kürzester Zeit eingeholt. Den Wald würden sie wohl nicht erreichen, zu fern schien er für ihren, wie Aiya schätzte, geringen Vorsprung. Dann fiel ihr Blick auf eine kleine, zerfallene Holzhütte, die sich an einen der Hügel schmiegte. Wenn sie sich dort versteckten konnten, würden die Orks sie nicht mit ihrem Angriff überraschen können. Schnell gab sie den Gefährten das Signal ihr zu folgen, dann rannte sie los. Je näher sie der Hütte kam, desto zerfallener und älter wirkte sie, sodass Aiya beim Anblick des Holzes Angst bekam, es würde bei einer bloßen Berührung auseinanderfallen. Dennoch rannte sie weiter und riss die Tür auf. Hastig sah sie sich um. Die Hütte, von der sie nur einen ehemals schlichten und eleganten Flur sah, schien seit Jahren verlassen zu sein. Sie waren allein. Aiya atmete tief durch und winkte die anderen herein. Kaum war mit Thranduil der letzte der Gefährten über die Schwelle gestürzt, war in der Ferne ein leises Krächzen zu hören. Schnell schloss Alassen die Tür. Kollektives Aufatmen war zu hören. Hier würden sie fürs Erste vor den Orks sicher sein.
“Denkt ihr, sie finden uns hier?“, fragte Tingilya leise in die Runde. Ihr Gesicht war vom langen Rennen gerötet, ihr Atem ging schnell.
“Zumindest können wir das nicht vollständig ausschließen, doch ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass die Orks uns hier vermuten“, antwortete Thranduil, dem keinerlei Anstrengung anzumerken war, gelassen.
“Das denke ich-“, sagte Alassen, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Langsam folgte er dem Arm, der sich, gehüllt in einfachen, hellblauen Stoff, an die Hand anschloss und sah geradewegs in das Gesicht einer elbischen Frau. Ihr blondes Haar war durchsetzt von einigen wenigen grauen Strähnen, ihre graublauen Augen glänzten und sahen ihn sanft an. Die Lippen waren zu einem freundlichen Lächeln gespannt und ihr Gesicht war von einigen Falten durchzogen. Sie wirkte so jung und gleichzeitig so unendlich alt, dass es Alassen unmöglich war, ihr Alter zu schätzen. Einige Sekunden herrschte absolute Stille, dann begann die Elbin zu sprechen.
“Seid willkommen, Gefährten, in unserem Reich“, sagte sie sanft, aber mit einem Hauch Verspieltheit in der Stimme. “Wir freuen uns, dass ihr unserem Ruf gefolgt seid und meine Botschaft hört.“
“Wer seid ihr?“, fragte Thranduil, der Älteste unter ihnen, ehrfürchtig. Wenn nicht einmal er wusste, mit wem sie es zu tun hatten, musste diese Elbin noch älter sein als er.
“Mein Name, Thranduil, Orophers Sohn, ist Lóriel, Tochter der Träume“, antwortete die Elbin immer noch lächelnd. “Ich stamme aus Doriath, dem verlorenen und begrabenen Elbenreichs aus den Tagen vor der Ausbreitung des Meeres. Ich diente König Thingol und war mit Túrin, Sohn Húrins, bekannt. Ich war es, die Aiya die Botschaft der Valar vermittelte.“
“Ich erinnere mich“, sagte Aiya verträumt und Lóriels Lächeln wurde breiter.
“Ja, Valóma, durch deine Träume habe ich euch hergeführt, um euch das Ziel eurer Reise zu nennen und euch eine Botschaft zu übermitteln, die den Ausgang eures Auftrags und das Schicksal Mittelerdes beeinflussen wird“, erklärte sie, dann drehte sie sich ein wenig und deutete den Flur entlang. “Doch nun setzt euch und esst! Eure Reise war beschwerlich und mein Mann erwartet euch bereits.“

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu