XXI

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Die schwarze Treppe schien Cugulim ewig lang zu sein. Seit fast fünf Minuten stiegen sie in die Tiefen von Gorothos hinab und abgesehen von den vielen Absätzen, die zu den schier unzähligen Stockwerken der Festung führten, liefen die Stiegen, die das dämmrige Licht tausender Fackeln zu verschlucken schienen, ohne Pause nach unten. Cugulim war froh, die Istari hinter sich zu wissen, denn der Blick auf die zwei breit gebauten und schwer bewaffneten Orks vor ihm senkte seinen Mut mit jeder Stufe, die sie weiter in die Erde vordrangen. Zwei weitere Orks bildeten den Abschluss ihrer kleinen Gruppe, allesamt Orks, die in dieser Festung ausgebildet und gestählt worden waren. Nun gingen sie also den Weg voraus ins unterste Stockwerk, wo sich der Thronsaal Morgoths befand. Auch wenn Cugulims Freude darüber, dass er unbehalten am Ziel seiner Reise angekommen war, durch die düstere Umgebung stark gebremst wurde, verspürte er doch eine gewisse Erleichterung, dass der erste Teil dieses Weges bewältigt war. Dennoch machte ihm die bevorstehende Begegnung mit Melkor Morgoth selbst Angst und ohne die warmen Blicke der Istari, die er in seinem Rücken spürte, wäre er wahrscheinlich schon längst die vielen Stufen schreiend zurückgerannt. So aber spielte er seine Rolle weiter und ging mit scheinbar stoischer Gelassenheit immer weiter in die Tiefen von Gorothos hinab. Die letzten Tage ihrer Reise waren für ihn unheimlich kräftezehrend gewesen. Je näher sie Morgoths Festung gekommen waren, desto mehr Orks hatten ihren Weg gekreuzt. Ein jeder Ork hatte ihn mit einem misstrauischen und gar blutrünstigen Blick angesehen, sodass Cugulims Angst immer weiter gestiegen war. Nun war er also im Zentrum von Morgoths Macht angekommen und erwartete, dass das Unheil jeden Moment über ihn hereinbrach. Noch war es jedoch nichts so weit, noch schritt über die kalten Stufen von Gorothos. Als Cugulim die Treppe hinabblickte, sah er etwa fünfzig Stufen unter ihnen einen Absatz, der offenbar ohne Fortführung war. Es schien, als hätten sie ihr Ziel erreicht. Unten angekommen, blieben die Orks stehen und drehten sich zu Cugulim um.
“Der dunkle Herrscher erwartet euch“, sagte einer der Orks mit kratziger Stimme, dann traten sie zur Seite. Zögerlich ging Cugulim voran, durch die schwarzen Gänge tief unter der Erde. Schließlich konnte er eine Abzweigung erkennen, hinter der ein gedämpftes Licht aufstrahlte. Unbewusst beschleunigte der Verwalter Gondors seine Schritte, die Aussicht auf Licht nach diesen dunklen, düsteren Gängen stimmte ihn ein wenig positiver und zuversichtlicher. Als er um die Ecke bog, stockte ihm für einen Moment der Atem. Der Saal, der sich vor ihm ausbreitete, war der wohl größte Raum, den Cugulim jemals gesehen hatte. Er war etwa sechzig Meter lang und vierzig Meter breit, dazu lag die Decke bestimmt fünfzehn oder noch mehr Meter über ihren Köpfen. An den Wänden waren links und rechts jeweils zwölf Pfannen an der Wand befestigt, aus denen rötliches, flackerndes Licht den Raum erhellte. Ansonsten war der gewaltige Saal leer, abgesehen von einem riesigen Thron in der Mitte des Saales. Zwar konnte Cugulim von hier aus nur die Rückenlehne des Stuhles erkennen, doch das schlichte, schwarze Holz strahlte Würde und Macht aus. Außerdem schien es in einem bezaubernden Licht zu glänzen, auch wenn ein großer Teil des Lichtes von den kalten schwarzen Steinwänden aufgesaugt wurde. Links von Cugulim stand ein Ork, größer als alle Orks, die er bisher gesehen hatte. Er war in eine schwarz glänzende Rüstung gehüllt und offensichtlich als Wachposten beschäftigt. Dann riss eine dunkle Stimme, die wie grollender Donner klang, den jungen Menschen aus seinen Gedanken.
“Tretet näher“, sagte die Stimme, die von dem riesigen Thron zu kommen schien. Gehorsam ging Cugulim ein paar Schritte vor, bis seine weichen Knie ihn keinen weiteren Schritt erlaubten. Immer noch spürte er, dass die Istari unmittelbar hinter ihm waren. Dann hörte er ein brummendes Geräusch und es schien sich eine Gestalt von dem Thron zu erheben. Als sie um den Stuhl herumgekommen war, konnte sich Cugulim für einige Momente nicht rühren, so sehr war er in diesem Anblick gefangen.
Das Wesen, dass etwa acht Meter vor ihnen aufragte, war sicher zweieinhalb Meter groß und komplett in schlichte, aber elegante Kleider aus schwarzem Stoff und ohne jegliche Verzierung gehüllt. Seine Hände wurden von metallisch glänzenden Handschuhen verdeckt, seine Füße steckten in ebenfalls metallenen Stiefeln. Er trug kein Schwert und auch keine andere Waffe bei sich, doch er strahlte absolute Sicherheit aus. Auf seinem Kopf saß eine hoch aufragende Krone aus schwarzem Metall, die wie ein Helm auf seinem Kopf saß und auch seine Wangen bedeckten. Was die Krone nicht verbarg, schien fast menschlich zu sein, zumindest bis man die Augen der Gestalt sah. In ihnen brodelte eine ewiges, rotes Feuer ähnlich dem in den Pfannen an der Wand, nur in der Mitte glänzte ein einzelner heller Kreis. Doch was Cugulim fast noch mehr fesselte, als die überwältigende Macht, die diese Gestalt mit jedem Stück ihres Körpers ausstrahlte, waren die zwei weiß leuchtenden Edelsteine, die in die Krone eingelassen waren. Sie leuchteten mit einem Licht, dem nur das Licht des Tages und der Nacht gleichkam, rein und angenehm. Cugulim schaffte es nur mit Mühe, sich von diesen herrlichen Steinen loszureißen.
“Ich habe euch erwartet“, donnerte die Gestalt, ohne eine Miene zu verziehen. Ihr Mund schien ein einziger schmaler Strich zu sein, der
sich beim Sprechen kaum öffnete.
“Ich heiße euch herzlich willkommen im Reich des Melkor des Einen, des ersten und mächtigsten der Valar.“
Cugulim stand zu sehr unter Schock, um antworten zu können. Stattdessen erhob Alatar seine Stimme.
“Ihr seid keiner der Valar, Melkor“, sagte der Istar mit fester Stimme, die jedoch einen durchaus verächtlichen Unterton auswies.
Morgoth lachte auf und das Echo des Raumes ließ sein Lachen wie einen Wirbelsturm klingen. “Seht euch an, Matinethar. Ihr seid ein alter Mann geworden, gebeugt, schwach und in Ketten gelegt, begleitet von deinem ewig ängstlichen Bruder und dem Vogelfreund Aiwendil. Womit wollt ihr mir drohen?“
“Die Valar werden euch für eure Taten büßen lassen“, antwortete Pallando mit zusammengekniffenen Zähnen.
“Die Valar sitzen im Westen, wie sie es immer tun, Rómestamo“, entgegnete Morgoth. “Wer Hilfe von ihnen erwartet, wird stets enttäuscht.“
“Ihr wisst genauso gut, wie wir, wann die Valar eingreifen werden“, antwortete Alatar mit ruhiger Stimme.
“Ich werde nicht zulassen, dass es so weit kommt, seid euch dessen gewiss“, sagte Morgoth, dann wandte er sich Cugulim zu. “Du bist also der Mensch, den mein treuester Diener am Leben ließ, um ihn zu seinem eigenen Diener zu machen.“
Cugulim war immer noch nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen, weshalb er ein gestottertes “J- ja“ aufstieß.
“Du hast die Istari zu mir gebracht, dafür werde ich der Entscheidung meines Mundes folgen und dich vorerst am Leben lassen.“
“I- ich danke euch“, antwortete Cugulim und verneigte sich.
“Ihr könnt diese Nacht hier bleiben, bevor ihr wieder aufbrecht. Und jetzt geh zu deinen Orks zurück.“
Cugulim nickte, verbeugte sich nochmal und verließ schluckend den Saal. In seinem Kopf schwirrte alles umher, als er die schwarzen Gänge verließ und den Orks begegneten, die am Fuße der Treppe auf ihn gewartet hatten. Schweigend trotteten sie alle die Stufen hinauf, während in Cugulims Kopf eine Frage umhergeisterte: Wie würde es jetzt weitergehen?

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt