~32~ Wort

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Um drei Uhr in der Früh packe ich mir ans Herz, nehme den Brief und die zwei weitern Umschläge und mache mich auf den Weg zur Kantine. Schnell vergewissere ich mich, ob auch wirklich Keiner da ist, bevor ich eintrete und die Sachen auf dem Tisch platziere.
Doch plötzlich plagen mich Zweifel.
Soll ich das wirklich machen?
Soll ich ihnen wirklich alles von mir Preis geben?
Was werden sie von mir halten?

So viele Fragen schwirren mir durch den Kopf. Zu viele!
Ich stehe bestimmt mehrer Minuten dort, bevor ich noch mal tief durch atme, die Sachen endgültig los lasse und wieder gehe.
Doch ich gehe nicht zurück in meinen Trailer, sondern zu dem kleinen Wald am Rande des Studiogeländes.
Ich brauche einfach die frische Luft und den Abstand. Den Anstand zu diesen Briefen!

Schweren Herzens lehne ich mich gegen eine große Fichte und lasse mich auf den Boden gleiten.
Jede Minute, die ich warte, fühlt sich an wie einen Tag.
Jede Stunde fühlt sich an wie ein Monat.
Mit jedem Tick das verstreicht und jedem Tock das vergeht, werde ich immer unruhiger.
Meine Fingerspitzen fangen an zu kribbeln und ich will einfach nur wissen, was die Männer sagen werden. Wie sie reagieren.
Oder will ich es doch lieber nicht wissen?
Würde ich das überhaupt verkraften?

Ungeduldig schaue ich gefühlt jede Sekunde auf meine Uhr. Doch die Zeit will und will einfach nicht verstreichen. Und dann, nach endlosen Warten, zeigt die Uhr 5:00.
Der Zeitpunkt, an dem die Männer immer die Kantine betreten und frühstücken. Der Zeitpunkt, an dem sie jetzt die Briefe finden, lesen und mich hassen werden.
Traurig schließe ich meine Augen und lehne meinen Kopf gegen die Fichte.
Diese Männern sind, waren meine Freunde. Die ersten, echten Freunde die ich je mals hatte und die ich jetzt gerade verliere. Nur wegen meinem Egoismus, meiner Lügerei, meinen Geheimnissen.
Ich habe es wohl nicht anders verdient.

,,Leo?!“ ertönt plötzlich Jeds Stimme von Weitem. Er hört sich verzweifelt, aber auch auf irgend eine Art und Weise glücklich an.
,,Leo?“ ruft er wieder, dieses mal klingt es, als würde er näher kommen. Langsam öffne ich meine Augen.
Am Horizont sehe ich, wie Jed weiter auf mich zu kommt. Und dann sieht er mich wohl, denn er bleibt abrupt stehen. ,,Leo!“ ruft er erleichtert aus und kommt direkt auf mich zugelaufen.
,,Um Gottes Willen, Leo! Dir geht es gut!“ Ohne Vorwarnung zieht er mich vom Boden hoch und umarmt mich kräftig.
Ich winde mich aus seiner Umarmung und entferne mich einen Schritt von ihm. Beschämt wende ich meinen Blick ab, will ihm nicht in die Augen gucken.

,,Myra Lanly...“ ergreift Jed das Wort, und bei dem Klang des Namen werde ich nur noch trauriger. ,,...Deine Mutter. Ich meine deine leibliche Mutter...“ Schwer seufzt der Kiwi, weiß anscheinend nicht, wie er sich ausdrücken soll, was er sagen soll.
,,Diese Frau war nicht irgend eine Frau. Nein, diese Frau... diese Frau war meine Frau.“

Stille. Nicht nur zwischen uns, sondern auch in meinem Kopf.
Und dann, ja dann erst verstehe ich, was diese Worte bedeuten. Was für eine Tragweite sie haben.
Mein Kopf schnellt hoch, meine geweiteten  Augen suchen den Kontakt zu Jeds.
So vieles geht mir durch den Kopf.
So viele Gedanken.
So viele Gefühle.
Und als Jed mich dann anguckt, voller Hoffnung und Glück, erkenne ich ihn.
,,Dad?“ Es ist nur ein heiseres Krächzen, das meine Kehle verlässt, doch er hört es, und ist genau so erstaunt wie ich.

Tränen sammeln sich in seinen Augen und ich kann nicht anders, als auch zu weinen.
,,Dad!“ wiederhole ich dieses so unglaublich schöne Wort und schon finde ich mich in seinen Armen wieder.
,,Du bist es wirklich! Du bist Leonora Brophy! Meine Tochter! Nach all den Jahren habe ich dich wieder! Ich kann es nicht fassen!“
Plötzlich wird er ganz still und lässt von mir ab.
,,Es tut mir so unendlich Leid, dass dir das angetan wurde. Ich hätte die Suche nicht aufgeben sollen.
Dann wäre deine Mutter...“ Er bricht ab und guckt deprimiert auf den Boden.

,,Jetzt bist du ja hier.“ beruhige ich ihn. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich wieder spreche!
Es ist unfassbar!
,,Ja. Leo... Du hast eine wunderschöne Stimme.“

Stilles LebenWhere stories live. Discover now