9. Ach Ji...

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"So, da wären wir, Jian.", grinse ich leicht und schiebe ihn durch die Tür, nachdem ich diese aufgeschlossen haben. "Wieso bist du denn schon da, Sang? Und wehe, du gehst jetzt einfach hoch in dein Zimmer! Wir wollten gerade essen. Zum Glück habe ich etwas mehr gemacht.", höre ich auch schon meine Mum aus der Küche rufen. "Die Begrüßung war aber auch schon mal besser.", lächenlnd sehe ich zu Ji, "Ich habe Besuch mitgebracht." Die Topfdeckel klappern, als sie diese auf die Töpfe donnert und kurz darauf steht sie vor uns und betrachtet unseren Gast mit einem strahlenden Lächeln, aber besorgtem Blick. "Ich bin Sang's Mutter. Es freut mich, dich kennenzulernen. Möchtest du mit uns zu Mittag essen?" Zum Glück spricht sie ihn nicht auf seine roten und verweinten Augen an. Zögerlich sieht er zu uns, nickt dann aber leicht: "Wenn ich darf. Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten." "Ach was! Mein Mann kann etwas weniger zu essen gut gebrauchen. Der ist schon dick genug, weißt du.", lacht sie belustigt und zieht uns beide in den Essbereich. Den empörten Laut meines Vater ignoriert sie dabei jedoch gekonnt. "Geht es wieder?", besorgt beuge ich mich etwas zu ihm und drücke ihn auf einen der Stühle. Seine Augen sind etwas wässrig und leise schluchzend vergräbt er sein Gesicht an meiner Schulter. "Ach mein armer Junge. Jetzt iss erst mal etwas. Und danach geht ihr hoch und zieht euch um. Eure Uniformen sehen aus, als ob sie eine Wäsche gebrauchen können." Stumm tauschen wir einen Blick aus und ich nehme unsere Teller entgegen und platziere sie vor uns. Meine Eltern setzen sich jedoch ins Wohnzimmer. Jungen in unserem Alter ist es meist peinlich vor anderen zu weinen. Da hat auch diese Familie Erfahrungen gemacht. Mit zitternden Händen greift er zu dem Besteck und beginnt langsam die Nudeln zu essen. "Danke...", murmelt er leise und starrt mit sehnsüchtigen Blick auf seine Portion. "Für das Essen? Dafür musst du dich nun wirklich nicht bedanken. Sieh dir meinen Dad doch mal an. Ein bisschen weniger auf der Hüfte würde ihm echt gut tun." , winke ich ab und kurz darauf fliegt die Fernbedienung an meinem Kopf vorbei und grinsend strecke ich dem doch schon etwas älteren Mann die Zunge heraus. "Na warte.", gespielt wütend springt er auf. Auch ich erhebe mich und so beginnt eine kleine Hetzjagd durch das Haus.

Erst, als Ji laut zu lachen beginnt, halten wir verdutzt inne. Wir sehen uns alle gegenseitig an, ehe wir uns ihm anschließen. So wie es aussieht hat mein Klassenkamerad so etwas gerade nötig. Also setzen wir uns gemeinsam an den Tisch und reden über alles mögliche. Nun gut, meine Familie redet, als gäbe es keinen Morgen. Ji starrt die ganze Zeit auf die Tischplatte und lauscht schweigend.

"So, Jungs. Dann ruht euch ein wenig aus."

Schnell stelle ich das benutzte Geschirr in die Spüle, ehe ich den blau-grünhaarigen aus seinen Gedanke wecke und er mich wie ein getretener Welpe ansieht. "Komm, lass uns hochgehen." Behutsam nehme ich seine Hand in meine und dirigiere ihn in mein Zimmer. Zufrieden atme ich ein und steuere direkt meine Klamottenecke an: "Zieh die Uniform aus. Du kannst Sachen von mir haben." Etwas lustlos zieht er an der Krawatte und schließlich helfe ich ihm seufzend. Die dreckigen Sachen von uns bringe ich ins Bad und schmeiße sie direkt in die Wäsche. Immerhin brauchen wir das morgen wieder.

Als ich zurück komme habe ich erst die Befürchtung, dass er abgehauen ist. Doch als ich genauer hinsehe entdecke ich ihn. Er liegt zusammengerollt auf der gepolsterten Fensterbank. Die Beine hat er an die Brust gezogen und die Arme um diese geschlungen, während er sein Gesicht bedeckt. Mit großen Schritten gehe ich zu ihm, um ihn halb auf meinen Schoß zu ziehen und sanft hin und her zu wiegen, während ich ihm über den Rücken und durch die Haare streiche. Wieder klammert er sich an mich, als ob ich das letzte Stück Holz in einem weiten Meer wäre, auf welchem er hilflos umher treibt.

Seine Tränen fallen direkt auf mich und rollen über meinen Oberkörper. Wir haben nicht mal was an. Hoffentlich werden wir nicht krank.

"Hey, Ji. Hör auf zu weinen. Es ist doch alles gut.", versuche ich ihn zu beruhigen. Nur leider geht dieser Schuss nach hinten los. Und mit einem pampigen 'Nein' verlassen noch mehr Wasserfälle seine Augen. "Die anderen meinten das bestimmt nicht so." "Doch es ist so. Sie hassen mich, alle. Und das nur wegen meiner Mutter.", schluchzt er haltlos, "Wegen ihr können sie mich nicht leiden." Am besten ich frage da jetzt nicht weiter nach und lasse ihn sich erst einmal ausweinen.

Zwei Stunden später liegen wir beide müde auf den weichen Kissen. Er ist endlich eingeschlafen. Trotzdem wird er noch ab und an von unkontrollierten Zuckungen heimgesucht.

"Sang?", neugierig strecken meine Eltern ihren Kopf in den Raum und kommen ganz hinein, als ich zu ihnen sehe. Direkt nimmt mein Dad die Decke und breitet sie über uns aus. "Was hat er denn?", besorgt setzt Mum sich zu uns und streicht dem größeren liebevoll durch die Haare, "Das ein so junger Mensch nervlich so fertig ist. In der Schule macht er bestimmt nie einen verletzten Eindruck. Wie nennt die Jugend von heute so etwas? Cool?" "Ja. Er ist ziemlich beliebt, was mich selbst überrascht, und recht schweigsam, aber immer freundlich und eigentlich auch hilfsbereit.", murmle ich nachdenklich. "Hm, seltsam. Dein Freund scheint ziemlich aufgelöst und fertig zu sein. Wir sollten seine Eltern anrufen und sagen, dass er heute bei uns übernachten wird. Immerhin ist es schon zwanzig Uhr. Aufwachen wird er heute wahrscheinlich nicht mehr.", skeptisch sehen wir alle auf ihn hinab.

"Er hat keinen Vater mehr und seine Mutter besäuft sich nur oder treibt es mit fremden Kerlen.", erkläre ich monoton und erschrocken ziehen die Beiden die Luft ein. Aber wer hätte es ihnen verübeln können? Immerhin ist es für nette Menschen meist sehr schrecklich so etwas zu hören.

"Der Junge bleibt hier. Mindestens noch morgen. Aber am besten wäre gleich die ganze Woche.", legt unser selbsternanntes Familienoberhaupt fest und einverstanden stimmen wir zu. Hoffentlich ist das für Jian auch in Ordnung.

"Willst du da liegen bleiben oder sollen wir dir helfen ins Bett zu kommen, mein Junge?" "Danke, aber nein danke. Ich bleibe lieber bei ihm. Vermutlich braucht er mich gerade dringender als mein Bett mich.", erkläre ich nüchtern mit einer Geste Richtung besagtem Möbelstück. Doch allein durch diese Bewegung wird der Griff des Schlafenden um mich fester: "Nicht gehen... Bleib hier..." "Er scheint dich sehr gerne zu haben.", zwinkert meine Mutter. Mit geröteten Wangen sehe ich zu ihr: "Ich stehe nicht auf Kerle!" "Eigentlich meinte ich das auf freundschaftlicher Basis. Aber falls du deine Meinung doch noch ändern solltest, hätten wir auch nichts dagegen. Versprich mir nur, dass ihr irgendwann mindestens ein Kind adoptiert." Doch ehe ich noch etwas sagen kann ergreifen die beiden die Flucht. Stöhnend lasse ich meinen Kopf auf das Kissen zurück fallen und ziehe meinen Banknachbarn wieder ein Stücken nach oben, damit wir in der Nacht nicht doch noch den Boden küssen. Lächelnd vergräbt er sein Gesicht an meinem Hals.

"Sang? Wie heißt er eigentlich?", wieder meine Mutter. Und am liebsten würde ich meinen Kopf auf den Tisch schlagen. "Jian. Lee Jian.", grummle ich genervt. Beschwichtigend hebt sie die Hände: "Schon gut, schon gut. Ich lass euch ja schon alleine, ihr Turteltauben." Sprachlos sehe ich ihr nach. Das hat sie jetzt nicht wirklich gesagt, oder? "Aber immerhin muss keiner von euch seinen Nachnamen ändern, wenn ihr endlich heiratet.", höre ich sie noch lachen und bin gerade mehr als froh, dass Jian tief und fest schläft.

You are my LollipopWhere stories live. Discover now