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"Was ist eigentlich mit dir, Tim? Hast du auch eine neue Begabung bekommen?", fragte ich meinen Freund irgendwann. Wir waren eben beim Treppenhaus angekommen und es fiel mir bereits jetzt ziemlich leicht, mit meinen erweiterten Sinnen klarzukommen. Unbewusst erhielt ich von ihnen extrem genaue Informationen über meine Umgebung in einem Radius von geschätzt fünfzig Metern, aber so diskret, dass es kaum meine Gedanken störte. Ob Tim eine ähnliche Kraft entwickelt hatte? Oder etwas völlig anderes?

Er musste mich enttäuschen, sein unbeschwerter Gesichtsausdruck verschwand beinahe augenblicklich und sein Mund bekam einen Knick: "Ich schätze, ich habe mich gar nicht verändert. Bei mir ist noch alles wie vorher, die Ärzte haben auch nichts festgestellt..."

Eilig musterte ich Tim genauer. Er sah wirklich bedrückt und unglücklich darüber aus. A-aber... das war doch absolut in Ordnung! Für ihn war alles ganz normal, nicht so chaotisch wie für mich vorhin. Er musste auch niemandem erklären, warum er plötzlich aussah wie ein jahrelang erfahrener Gewichtheber, der in einem sonst schmächtigen Kinderkörper gefangen war! Und er hatte keine riesige, unübersehbare Narbe auf seinem Brustkorb! Doch ehe ich meinen Mund öffnen konnte, um ihm das zu erläutern, hatte er schon wieder ein windschiefes Lächeln aufgesetzt und schnaubte, als wolle er über einen schlechten Scherz seinerseits hinwegkommen. "Naja, ist halt so. Kann man nichts mehr dran ändern!"

"Bist du sehr traurig deswegen?"

"Ach was!", erwiderte Tim etwas zu schwungvoll, "Warum sollte ich?"

Ich schwieg. Er war traurig, stärker als er zugeben wollte. Als mein Freund bemerkte, dass er mich nicht hatte überzeugen können, seufzte er und ließ seine Schultern hängen. "Nagut, du hast Recht. Ich hätte mir gern etwas gewünscht. Die anderen entdecken auch grade ihre Kräfte und probieren sie vor den anderen aus. Da wird man als beinahe einziger ohne sowas natürlich neidisch... Und dann hast du gleich zwei Sachen abgestaubt und... Äh, bitte vergiss was ich als letztes gesagt habe...!" Tim wurde blassrosa um die Nase und presste seine Lippen zusammen. Er tat mir so leid in diesem Moment. Da konnte ihn auch keines meiner schwächlichen Argumente trösten, an die ich eben noch gedacht hatte.

"Vielleicht... vielleicht geht das ja bald alles wieder weg", mutmaßte ich, allerdings wenig überzeugt von dem, was ich sagte, "Wenn die Blitznarben verblassen, könnten ja auch die Muskeln wieder verschwinden! O-oder du hast doch etwas und es braucht einfach noch Zeit, um zu wirken! Sei bitte nicht bedrückt, okay? Ich würde jederzeit mit dir tauschen, wenn ich dafür nur die roten Streifen auf deinem Arm bekomme!"

Tim versuchte zu lächeln: "Würdest du nicht."

"Würde ich doch! Du wirst jedenfalls zukünftig im Freibad nicht doof angeguckt! Und ich hab dich trotzdem immer noch genauso gerne wie davor! Mit oder ohne Veränderung!", beharrte ich. Bitte lass das die richtige Antwort gewesen sein, damit er nicht länger an seiner Trauer leiden musste! Tatsächlich schien er jetzt ein klein wenig besänftigter nach meiner Bestätigung und er schaffte es, wieder mit erhobenem Kopf neben mir herzulaufen. "Danke Stegi. Und ich versuche, nicht mehr so sehr darüber nachzudenken!"

Mittlerweile waren wir auf der Treppe zum ersten Geschoss angelangt und ich schenkte meinen mir voraus eilenden Sinnen Aufmerksamkeit. Es war lauter geworden, aber es gelang mir nicht, einzelne Stimmen aus dem ganzen Wirrwarr herauszufinden. Dafür waren es einfach zu viele und sie redeten zu durcheinander, sodass mich ein kurzer Kopfschmerz plagte, als ich mich noch stärker konzentrieren wollte. Das leise Geräusch, was mir dabei unwillkürlich entwichen war, hatte Tim natürlich gehört und sofort musterte er mich kritisch. "Es geht mir gut!", erwiderte ich rasch und legte sicherheitshalber einen Schritt zu, damit er mich nicht zurückschicken konnte. Je näher wir kamen, desto heftiger wummerte mir der Schädel durch die Reizüberflutung, egal wie sehr ich sie zu ignorieren versuchte. Mühsam verkniff ich mir jedes weitere Zeichen von Schwäche, bog um die letzte Ecke und betrat dann die große Cafeteria.

Das einzige, was ich noch erfassen konnte, war die schier immense Größe des Speisesaals, dann hörte ich jemanden laut schreien: "STEGI! Leute, Stegi ist wieder gesund!"

Ich zuckte zusammen durch den plötzlichen Lärmpegel, als sich auch schon mehrere Augenpaare auf mich richteten und ein ziemlicher Trubel ausbrach. Viele der Schüler jubelten, einige standen sogar auf und kamen auf mich zugelaufen, um sich um mich zu scharren und von Nahem anzuschauen, vielleicht um meine Narbe zu suchen. So viel Aufmerksamkeit war ich gar nicht gewohnt! Normalerweise war ich nämlich nicht so beliebt unter meinen Mitschülern, zwar auch nicht das Gegenteil, aber öfters hatte ich schon das Gefühl, dass man mich vergaß oder über meinen Kopf hinweg schaute. Jetzt war ich einmal das Zentrum aller Blicke und des Zuspruchs und ich genoss den Moment, ohne ganz zu verstehen, wieso überhaupt.

"Stegi! Gott, bin ich froh, dich wiederzusehen!", rief jemand aus der Schülermenge und sobald er sich zu mir durchgedrängt hatte, waren wir uns auch schon in die Arme gefallen. "Tobi!", grinste ich glücklich und drückte den Jungen fest an mich. Tobi war mein bester Freund und neben Tim der erste Mensch, an den ich mich mit meinen Problemen wenden konnte. Wir kannten uns auch schon seit Ewigkeiten und kamen ausgezeichnet miteinander klar, ebenso mit Tim, der mich zum Glück mit ihm teilen konnte, ohne sofort in Eifersucht zu versinken. Und ja, auch ich war wahnsinnig froh, ihn gesund wiederzusehen!

"Du hast gar keine Brille mehr auf!", bemerkte Tobi sofort, "Sag bloß, dass deine Augen wieder funktionieren!" Verblüfft löste ich mich von ihm. War ihm das wirklich so schnell aufgefallen? Er grinste: "Tatsache! Und...-" Er senkte seine Stimme. "Und du hast ziemlichen Muskelzuwachs gekriegt, richtig?"

"J-ja, äh, hab ich", stotterte ich völlig durcheinander. Woher wusste er das?! Nicht einmal Tim war das durch einen einzigen Blick aufgefallen! Geheimnistuerisch lotste mein Kumpel uns mit sich, zurück durch die Traube an Schülern, die sich langsam wieder auflöste, und hin zu einem der vielen Tische, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel - an Tobis Nacken bis auf seine rechte Schulter hinunter erstreckte sich ein ähnliches bläulich rotes Muster wie auf meinem Oberkörper, ehe es unter seinem Tshirt verschwand, nur mit dem Unterschied, dass es bei ihm bereits zu heilen und verblassen schien. Hatte er auch eine spezielle Fähigkeit entwickelt? War das etwa der Grund, warum er mich so wahnsinnig schnell durchschaut hatte?

Der Tisch war beinahe leer und wir konnten uns gegenüber setzen, bevor Tobi mich endlich mit funkelnden Augen aufklärte:

"Bei mir hat der Blitz meine Nerven so stimuliert, dass ich jetzt sogar noch schneller und präziser denken und Informationen verarbeiten kann als davor! Von gestern auf heute, einfach so! Cool, oder?" Tobi strahlte über sein gesamtes Gesicht, als er mir das sagte, und sah dabei aus wie ein kleiner, unschuldiger Engel. Er war schon immer sehr schlau gewesen, der beste unserer ganzen Klassenstufe und hatte uns stets mit seinem beeindruckenden Allgemeinwissen überrascht. Dass er jetzt noch schlauer sein sollte als zuvor, war beinahe schon gruselig, aber natürlich freute ich mich auch wahnsinnig für ihn! Er hatte es sich verdient gehabt! Und es passte zu ihm wie die Faust aufs Auge!

"Und du hast gleich zwei verschiedene Sachen bekommen, Stegi! Das hat kein anderer von uns, soweit wir das wissen! Dafür warst du aber auch am längsten von uns allen krank, wir haben uns ziemlich um dich gesorgt, aber durften nicht zu dir hoch. Nur Tim ab und zu mal. Ich vermute bisher, dass es da einen Zusammenhang gibt zwischen der Nähe, die man zum Blitz hatte, der Größe der dadurch entstandenen Narbe, der Zeit ohne Bewusstsein und dann der Ausprägung der neuen Fähigkeiten. Du warst am nächsten von uns allen dran, deshalb solltest du jetzt auch am meisten draufhaben! Danke dass du meine Theorie unterstützt hast!"

Ich nickte langsam. Das klang wirklich einleuchtend! Unauffällig schaute ich mich im Saal um, ob ich noch andere Schüler sah, die sich ebenfalls verändert hatten oder sichtbare Narben trugen, als mich ein spitzer Schrei zu Eis gefrieren ließ.

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Kapitel 20 ist in Bearbeitung und der Plot nimmt langsam Gestalt an! Vielleicht kann ich in nächster Zeit dann öfter uploaden :)

Was sind denn anhand des Klappentextes bisher eure Vorstellungen von der Handlung?

We are Heroes! (#Stexpert)Where stories live. Discover now