Kapitel 17

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Die kleine Gruppe, die unter den drei großen Eichen beim Brunnen stand, war viel zu auffällig für einen so geheimen Auftrag. Wenn sich noch vor Morgengrauen ein Kreis aus teils so bedeutenden Menschen mitten im Zentrum der Gilde zusammengefunden hatte, würde sich ja auch bestimmt niemand wundern oder irgendeinen Verdacht hegen. Noch schwebte das Zwielicht vor der Morgendämmerung über den Bäumen und die rote Göttin hatte es noch nicht gewagt über die Himmelskuppel zu schreiten. Bald würde sie sich erheben, doch dann wäre im Lager der Gilde keine Spur mehr von ihnen zu sehen. Alestra war in der Nacht nicht zur Ruhe gekommen und der Dämmerschlaf, in den sie zwischen all den Gedanken um die Reise und den Auftrag gesunken war, hatte ihr auch nicht die Erholung eingebracht, die sie für eine solche Reise gebraucht hätte. Sie hatte, bevor sie ihr Zimmer mit einem kurzen Blick des Bedauerns verlassen hatte, lediglich noch die Zeit gehabt schnell in die spiegelnde Klinge ihres Jagdmessers zu schauen, wo ihr ein blutunterlaufenes Augenpaar entgegengestarrt hatte. Ihre sonst so stechenden Augen hatten matt ausgesehen und ihre dunklen Augenringe ließen sie müder aussehen als Alestra eigentlich war. Das waren ja großartige Voraussetzungen. Nun schritt sie mit ihrem Bogen über der Schulter, ihrer nur mit dem nötigsten gefüllten Umhängetasche und einer beidseitigen Satteltasche in den Armen, die halbleer bereits schwer genug war, über den mit ein paar Steinen ausgelegten Hauptpfad zu dem Brunnen, der sich in einem mystischen Schimmer aus dem Dunst erhob. Die vier Gestalten, die sich darum herum gruppiert hatten und sich leise am Unterhalten waren, boten einen wahrlich ungewohnten Anblick. Alestra konnte bereits von weitem die hochgewachsene Erscheinung der Meisterin ausmachen, die kerzengerade dastand in ihrer Robe aus dunklen Leinen und ihre gesenkte Stimme drang dennoch durch die Schwaden gedämpft zu ihr herüber. Sie unterhielt sich mit einer untersetzten Person, die sie erst ausmachen konnte, als sie selbst mit einem freundlichen Nicken und einem leichten Lächeln auf den Lippen in den Kreis trat und einen angenehmen Morgen wünschte. Es handelte sich um eine der Heilerinnen aus den Katakomben, die Alestra dort unten zwar schon oft erblickt hatte, aber sie hatte noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Das einzige, was sie noch über sie wusste, war, dass sie eine sehr hohe Stellung innehatte und so wunderte sie sich nicht wirklich sie hier zu erblicken. Alestra blickte in das nervöse Gesicht von Melissa, die am Ärmel ihres schlichten dunkelroten Kleides herumspielte und nach einer knappen Begrüßung wieder jeglichen Blickkontakt mit den anderen Personen mied. Ihre Locken hatte sie in einem Zopf gebändigt und dafür, dass sie wahrscheinlich auch nicht mehr Schlaf als sie selbst bekommen hatte, sah sie erstaunlich munter aus. Etwas abseits stand, wie könnte es anders sein, in den Schatten der Bäume der Mann mit dem Gesicht, das sich ihren Augen bisher stets entzogen hat, in seinem schwarzen Umhang. Es war schon ein ungewohnter Anblick diese so verschiedenen Menschen an einem Fleck versammelt zu sehen und inmitten von ihnen die Meisterin, die man außerhalb ihres Hauses nur sehr selten zu Gesicht bekam. Niemand außer Valyanna sprach ein Wort, doch Alestra achtete nicht auf das Gesprochene. Eine leichte Brise fuhr ihr durchs Haar und spielte mit ihren Haaren, die Alestra für die Reise in eine Flechtfrisur gezwungen hatte. Das Wetter schien ihnen gut gesonnen zu sein und war bestens geeignet für einen so langen Weg. Bald würde die Sonne durch die Bäume brechen und dann sollten sie aufgebrochen sein. Als sie das Gespräch mit der anderen Heilerin beendet hatte, wand sich die oberste Heilerin dem Rest des Kreises zu und ergriff beinahe schon feierlich das Wort: „Meine Lieben, euer Aufbruch steht kurz bevor und ich möchte euch ein paar letzte Anweisungen geben, insbesondere dir, Alestra. Ich nehme an, dass du schon die nötigen Gewächse aus dem Garten der Nachtschattengewächse besorgt hast." Alestra deutete zur Bestätigung auf die Satteltasche.

Die Meisterin fuhr mit einem Blick auf die andere Heilerin fort: „Ejua hat aus den Katakomben noch die Arzneien, um die ich sie gebeten hatte, beschafft. Mit ihnen und deinen Fähigkeiten sollte einem Erfolg deines Auftrags und der Rettung unseres Thronerben nichts mehr im Wege stehen. Du weißt, welche Verantwortung auf deinen Schultern lastet. Du solltest dich, falls du scheiterst, nicht um meine Missgunst sorgen, sondern um den Zorn, den du im Volk dadurch verursachst. Aber ich glaube an dich, meine Liebe! Du wirst bald zurückkehren und uns mit Freuden von deinem Erfolg erzählen, darauf vertraue ich." Die Augen der Meisterin fingen einen Glanz ein, den Alestra noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte und der ihr plötzlich das Vertrauen gab, dass sie es wirklich schaffen konnte. Die oberste Heilerin griff in ihre Tasche und holte zwei unterschiedlich große, aber prall gefüllte Lederbeutel hervor, in denen Alestra die Münzen bereits aneinanderschlagen hören konnte und die sie ihr und Melissa, die völlig erstaunt auf die sich ihr entgegenstreckende Hand starrte, reichte. Alestra konnte sie verstehen, denn auch sie war noch nie in Besitz von soviel Geld auf einmal gewesen und das Gewicht in ihren Händen fühlte mehr als nur ungewohnt an.

„Alestra, du weißt es ja bereits, euch werden exquisite Feierlichkeiten erwarten und ihr werdet euch entsprechend dafür einkleiden müssen. Das Geld davon bekommt ihr von der Gilde, aber ich erwarte, dass ihr unsere Schwesternschaft angemessen vertreten werdet. Falls es noch weitere Erledigungen gibt, die für den Auftrag gemacht werden müssen, Alestra, steht dir noch weiteres Geld zur Verfügung. Ich möchte nicht, dass du des Geldes wegen scheiterst. Ich habe eurem Begleiter einige weitere Anweisungen mitgegeben, die du, Alestra, zum rechten Zeitpunkt zu lesen bekommen wirst. Ihr werdet euch an alles, was darinsteht und was ich euch jetzt sage, halten und vor allem werdet ihr den königlichen Befehlen, die ihr durch euren Begleiter bekommen werdet, Folge leisten."

Die Worte hallten noch immer in Alestras Kopf nach, als sie wenig später auf den Rücken ihres Pferdes für diese Reise stieg. Der Schimmel hielt in ihrer Gegenwart merklich stiller als es wahrscheinlich andere Tiere gemacht hätten und sie war mehr als nur froh darum, als sie die Satteltaschen, die nun auch mit den restlichen Arzneien gefüllt waren, befestigte. Sie saß auf und in diesem Moment durchströmte sie auch so etwas wie Unternehmungslust und Tatendrang. Die Aufbruchsstimmung lag in der Luft und auch die Pferde schienen dies wahrzunehmen, denn der Rappe des Spions und das dunkelbraune Pferd Melissas drängten bereits in Richtung des Hauptpfades, auf dem sich in ein paar Augenblicken, ihre Hufabdrücke in den Boden graben würden und ihren Aufbruch verkünden würden. Plötzlich sehnte Alestra sich danach endlich wieder die rhythmischen Bewegungen eines Pferdes unter sich zu spüren und nach dem Wind, wie er mit ihren Haaren spielte, ihr ein Gefühl der Freiheit schenkte. Ihr Begleiter hatte sich gerade von Valyanna verabschiedet und nahm nun auch seinen Platz auf seinem Rappen ein. Alestra nahm dies als Zeichen zum Aufbruch und wollte ihrem Pferd schon die Hacken in die Seiten treiben, als sie eine kalte Hand auf der ihren, die die Zügel bereits ergriffen hatte, spürte. Sie sah in die grauen Augen ihrer Besitzerin und bemühte sich ihrem Blick standzuhalten. Die Berührung hatte nichts Forderndes an sich, viel mehr etwas Behutsames und das war es, was Alestra aus dem Konzept brachte. „Bitte komm heil nach Hause zurück, meine Liebe! Ich wünsche dir alles Glück, das dir Khaleidireas schenken möge! Mögen die Götter dir beistehen!" Ein wahrhaft ehrliches Lächeln stahl sich auf Alestras Lippen und mit einem dankbaren Nicken in Richtung ihrer Meisterin drückte sie kurz ihre Hand. Ja, sie würde zurückkommen, egal was ihr nun bevorstand. Valyanna löste ihre Hand von der Ihren und trat einen Schritt zurück, sodass Alestra die Zügel wieder aufnehmen und ihren Schimmel in Richtung der anderen lenken konnte, während sie noch immer den Blick der obersten Heilerin erwiderte. Als die kleine Gruppe auf ihren Pferden den seichten goldenen Fäden, die der Sohn der roten Göttin in das noch immer von Sternen übersäte Himmelzelt gemalt hat, folgte, hatte sich ihr Lächeln noch immer nicht verflüchtigt. Sie entfernten sich immer weiter von den Häusern der Gilde und ritten hinaus in die noch immer herrschende Nacht, Tarranar entgegen, während der durch die Bäume hindurchsickernde Mond sie auf seinen silbernen Pfad führte.

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt