Kapitel 15

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„Wovon redest du, Melissa? Was ist los mit dir?" Die Sorge, die in Alestras Stimme mitschwang, war nicht gespielt. Genau die gleiche Frage, die Melissa einen Satz vorher gestellt hatte, spukte nun in ihrem Kopf umher. Was war hier nur los?

„Das fragst du dich noch nach all den Dingen, die in den letzten Stunden passiert sind, nach den Dingen, die du mir dabei angetan hast?"

„Ich habe dich davor bewahrt zu verbluten, Melissa. Das war das einzige, was ich dir angetan habe."

„Dass ich beinahe verblutet wäre, das war dein Verdienst. Das alles war doch geplant von dir, aber das ist mir viel zu spät in den Sinn gekommen. Und was war damit, dass du diese Sache, von der du wusstest, dass sie mich in Schwierigkeiten bringen würde, einfach so ausplauderst?" Alestra merkte, dass Melissa die Situation zu viel wurde. Sie war einfach noch nicht wieder derart wohlauf, dass sie diese Belastung und Anspannung lange aushielt. Sie fantasierte. Wie sonst käme sie auf den Gedanken Alestra alle Schuld zuzuweisen? Sie würde sie später danach fragen, wenn sie wieder klar bei Sinnen war. Sie holte tief Luft und suchte nach beschwichtigenden Worten. „Melissa, bitte beruhige dich! Ich bin nicht nur hier, um nach dir zu sehen, sondern auch, um dir das zu erklären, denn ich hatte meine Gründe dafür und dabei ging es mir in geringster Weise darum, dir Schaden zuzufügen. Lass es mich dir erklären!"

Mit einer einladenden Geste wies sie Melissa an sich auf dem Bett niederzulassen, bevor sie selbst sich den Schemel vor dem Tisch zurechtrückte und ihr gegenüber Platz nahm. Alestra sah diesen Funken des Zögerns in ihren Augen, bevor sie sich auf dem Bett niederließ, wobei Melissa sie nicht aus den Augen ließ. Aber Alestras Blick war indessen zu dem großen mittlerweile getrockneten Blutfleck auf den Laken gehuscht. Wie konnte Melissa nur so auf den Beinen an, wenn sie augenscheinlich noch so stark geblutet haben musste? Die Wunde war schlimm gewesen und die Arzneien zwar stark, aber nicht so sehr, dass sie Wesen wie unversehrt wirken lassen konnten. Das kann nicht mein Verdienst sein! Erst jetzt offenbarte Melissa die Stelle in ihren Kleidern, die Alestra aufschneiden hatte müssen, um ihr Linderung zu verschaffen. Die Verbände, die sie ihr angelegt hatte, trug sie nicht mehr. Ihre kaum merkliche Verwunderung wurde mit einem trotzigen Blick Melissas quittiert und Alestra ahnte, was sich in diesem Raum abgespielt haben musste, während sie selbst draußen zwischen den Bäumen mit ihrer sich anbahnenden Verzweiflung gekämpft hatte. Vor ihrem inneren Auge zogen Szenen, in denen das in Panik geratene Mädchen zur Tür stürzte, an ihr rüttelte und nach einem Ausweg suchte, bevor sie wieder vernünftige und rationale Gedanken fassen konnte, vorbei. Was auch immer sich in diesen Momenten in ihrem Kopf abgespielt hatte, sie musste wohl mit dem Schlimmsten gerechnet haben und daran war nicht einmal die unglückliche Kombination der Ereignisse schuld. Es gab einige Gifte, die in ihrer Halluzinationen erzeugenden Wirkung ihre Opfer in Hysterie stürzen und in dieser musste sie sich die Leinen vom Körper gerissen haben. Und in einer Ecke des kleinen Zimmers lagen sie auch, blutdurchtränkt.

„Melissa, bitte zeig mir zuerst die Wunde! Danach erkläre ich dir alles, aber das hier hat Priorität. Eigentlich dürfte es dir noch gar nicht so gut gehen." Melissa hatte keine andere Wahl als sich von ihr in die Kissen drücken zu lassen, sodass Alestra die Verletzung frei legen konnte. Was Alestra zu Gesicht bekam, ließ sie eindeutig an ihrem Verstand oder mindestens an ihren Augen zweifeln, denn da war nichts. Lediglich ein dunkler Schatten auf ihrer nackten Haut ließ die sich durch das Gift verfärbten Ränder der Wunde erahnen. Sie selbst jedoch hatte sich komplett geschlossen und nur noch eine Wulst war zurückgeblieben, die sich jedoch auch bereits am Glätten war. Es muss ein Wunder sein! Anders kann ich das niemandem erklären. Kein Kraut besitzt solche Kräfte und ich habe keinerlei Magie angewendet. Selbst wenn, solche Kräfte besitze nicht einmal ich.

Melissa musste ihren fassungslosen Blick bemerkt haben. Sie fragte zwar nicht nach, aber Alestra spürte, die sich auf ihre Zunge drängende Frage bereits förmlich in der Luft. „Was auch immer dir das Leben gerettet hat, meine Liebe, ich war es nicht." Ihr fiel es schwer das zu sagen, denn Alestra hatte sich so sehr gewünscht, dass sie dem Mädchen helfen konnte und sie vor dem, was ihr geblüht hätte, wenn sie zu einer anderen Heilerin gegangen wäre, zu bewahren. Aber scheinbar wäre ihre Hilfe zu spät gekommen, denn es konnte einfach nichts anderes als ein Wunder sein, was dafür gesorgt hatte, dass die Gestalt auf ihrem Bett noch dieselbe Luft wie sie selbst atmete. Niemand würde ihr je beantworten können, ob sie Melissa überhaupt hatte helfen können, doch das Wichtigste war, dass sie lebte und genau das sagte sie ihr auch. Noch während Alestra wieder Platz nahm, begann sie zu erzählen und dabei musste sie höchst vorsichtig sein. Es waren zu viele unterschiedliche Versionen der gleichen Geschichte und sie musste verhindern, dass auch nur eine Seite den wahren Grund ihres Handelns herausbekam. Und so reihte sie Wort um Wort aneinander, erzählte von ihrem Rückweg und dass sie bereits da ihren Verfolger bemerkt und ihn deshalb auf die Lichtung gelockt hatte. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, um ihre eigentlichen Beweggründe zu vertuschen und ließ Melissa stattdessen denken sie habe es aus reiner Sorge um die Gilde getan und sie tischte ihr die gleiche Geschichte wie der Meisterin auf, nämlich, dass sie mit ihrer List ihren Verfolger im Nachhinein irgendwie hatte ausschalten wollen. Während sie sich mit jedem weiteren Satz tiefer in ihre Erzählung verstrickte, ließ sie Melissa nicht aus den Augen, doch diese schaffte es nicht ihren Blick zu halten oder ihr gar direkt in die Augen zu sehen. Immer wieder huschte der Blick an ihrem Gesicht vorbei und so gab es Alestra irgendwann auf und sie wandte sich dem Fenster zu, durch das die Geräusche der Nacht in das Zimmer drangen. Jedem einzelnen Laut, der aus den Schatten vor dem Fenster zu ihnen drang, konnte Alestra eine Ruhe entnehmen, die sie in jedes gesprochene Wort einwebte. Als sie zu der Stelle kam, an der sie in den Augen Melissas sie verraten hätte, wurde sie langsamer, darauf bedacht, dass das Mädchen auch wirklich das verstand, was sie verstehen sollte. Und so gab sie ihr ein Stückchen mehr der Wahrheit.

„Melissa, ich musste das Beste aus der Situation machen, nämlich dich lange genug bei Bewusstsein halten, damit ich dich in mein Zimmer bekomme und gleichzeitig musste ich uns den Spion vom Hals schaffen und da ich ja bereits vorher ihn durch die Sache bei der Lichtung auf eine falsche Fährte gelockt hatte, war dies das Erstbeste, was mir einfiel. Und ich habe darauf geachtet, dass auch nur er uns hören konnte und niemand anderes. Ich konnte dir die Situation in diesem Moment nicht erklären, weshalb ich alles auf diese eine Karte gesetzt habe. Es war nie meine Absicht dich zu verraten." Erst jetzt drehte sich Alestra wieder zu ihr um, doch es war nicht die erhoffte Reaktion, die sich in Melissas Gesicht abspielte. Sie schüttelte den Kopf und es hatte den Anschein, dass sie bis jetzt über irgendetwas nachgegrübelt hätte. „Sagtest du gerade Spion?" Alestra nickte leicht. „Dann doch nicht etwa der, der dir das hier hinterlassen hat?" Mit diesen Worten zog sie ein Stück Pergament hinter ihrem Rücken hervor.


Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt