Kapitel 10

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Es war zuviel Zeit vergangen.
Sie hatte ihren Satz verloren und erntete einen verwunderten und sichtlich misstrauischen Blick der Meisterin. „Ich glaube, ich werde diese Frage wohl doch selbst stellen müssen, wenn du dir noch mehr Zeit lässt." Alestra spürte ihre Ungeduld, die sie wie ein Umhang umgab. „Ihr müsst wissen, dass es nicht gerade leicht ist Euch diese Situation zu unterbreiten angesichts der Umstände. Es ist so, dass ich, als ich heute morgen von meinem Auftrag zurückgekehrt bin, Beobachtungen gemacht habe, die verstörend sind, wenn man sich der Tatsache sicher ist, dass in der Zeit meiner Abwesenheit keine lebenden Büsche, die einen auf Schritt und Tritt verfolgen, hier sesshaft geworden sind. Ich fürchte wir haben es mit Spionen zu tun, von woher auch immer sie gekommen sein mögen. Und ich kann Euch versichern, dass diese Person oder dieses Wesen, auch wenn ich bezweifle, dass es nicht menschlich ist, aus den Reihen der Gilde stammt. Denn ich kann durchaus eine weibliche von einer männlichen Gestalt unterscheiden." Alestra hatte das Aufblitzen in ihren Augen gesehen und machte eine Pause. Je länger sie die oberste Heilerin beobachtete, desto mehr zweifelte sie daran, dass sie nicht von dem Spion wusste. Wie sonst konnte sie so viel wissen, was gerade erst geschehen war? Sie schickte ein Stoßgebet zu allen möglichen Gottheiten, die ihr in diesem Moment einfielen, dass die Meisterin nicht auf den Gedanken kam, Melissa herzuzitieren, um sie nach der Richtigkeit ihrer Aussage zu fragen. Es würde einfach alles zerstören.

Als keine Reaktion von der Person ihr gegenüber kam, beschloss sie wieder das Wort zu ergreifen und es zu einem Ende zu bringen. „Diese Gestalt ist mir den ganzen Weg hierher gefolgt, über jeden Umweg und wenn ich mal außer Reichweite war, hat sie mir aufgelauert. Unten in den Katakomben bin ich dann einer der jüngeren Heilerinnen aus meinem Haus begegnet. Sie war die nächstbeste Person, die ich kannte und tun würde, was ich ihr sage. Ich habe ihr von meinem Verfolger erzählt und sie zu dieser kleinen Vorstellung überredet, um ihn in die Irre zu führen. Ich habe mich natürlich versichert, dass auch nur er diese Unterhaltung mitanhören konnte und niemand anderes Wind davon bekommt, sodass falsche Schlüsse gezogen werden konnten.
Ich wusste nun also, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nachts in den Schatten auf mich gewartet hätte, mich verfolgt hätte, bis ich zu meiner Gruppe gestoßen wäre. Nur dass ich dann alleine gewesen wäre und er diese Gruppe vergeblich gesucht hätte."

„Und was hättest du dann getan, liebe Alestra? Ihn vielleicht getötet? Ich möchte dich doch nur ungern daran erinnern, dass Leben zu schenken unsere Aufgabe ist und nicht es zu nehmen."
Wie frischer Raureif zog sich die Kälte über ihre Miene. Die Gottheiten des Winters wären neidisch auf ihre frostige Stimme gewesen. „Ich hätte einen Weg gefunden ihn aus dem Weg zu schaffen."

„Dann freue ich mich doch, dass du dazu keine Gelegenheit hattest." Alestra zuckte zusammen. Die Stimme der Meisterin hatte einen tiefen, maskulinen Ton angenommen und ihre Lippen bewegten sich nicht. Ihre Lippen hatte nicht einmal ein Laut verlassen. Aus der hinteren Ecke des Raumes, wo ein geräumiger Schrank stand, ertönte ein Räuspern. Alestra wirbelte auf ihrem Schemel herum und erstarrte. Sie schwor sich

 kleine Eissplitter zu spüren, die sich in ihre nackte Haut bohrten, als ihre Fassade zersplitterte. Aus der Dunkelheit, die das Licht der Sonne nicht hatte vertreiben können, trat eine komplett in schwarz gekleidete Person und sie lachte. Es war ein Lachen triefend vor Schadenfreude. Wie lange stand er dort schon? Wieso hatte Alestra die Anwesenheit eines Dritten nicht bemerkt?

„Das hast du jetzt nicht erwartet, oder Süße? Ich weiß ja, dass ich Frauen sprachlos machen kann, aber diese Art ist tausendmal amüsanter. Ich sollte mich hier öfter blicken lassen, nicht wahr, Valyanna?" Alestras Blick huschte zwischen den beiden Personen hin und her und wusste, dass er einen Anflug von Panik in sich barg, die der Schock dort hinterlassen hatte. Er kannte ihren Namen, ihren richtigen. Valyanna. Das war also ihr Name. Ein Name, den nur die wenigsten kannten und noch weniger aussprachen. Ihr Blick schien den Mann förmlich an den Schrank nageln zu wollen und brachte ihn für einen kurzen Moment zum Schweigen. Ein wertvoller Moment, den Alestra dazu nutze ihn genauer zu betrachten. Er war kaum größer als sie, vielleicht sogar etwas kleiner, denn der Mantel und die Kapuze, die bis zu seiner etwas schiefen Nase sein gesamtes Gesicht bedeckte, versteckten seine Gestalt. Unter dem teilweise enganliegenden Stoff konnte man erahnen, wie muskulös er sein musste und selbst aus der Entfernung sah Alestra, wie hochwertig der Stoff war, der immer wieder von Ledereinsätzen abgelöst wurde, sodass wichtige Stellen geschützt waren. Die geschmeidige Bewegung, in der er die Arme vor der Brust kreuzte hätte eigentlich ein Ausdruck von strotzendem Selbstbewusstsein sein sollen, doch sie verriet ihn. Solche Gesten wollten vertuschen, dass man keine Ahnung hatte, was man mit seinen Händen anstellen sollte und legten sich die Maske der Selbstsicherheit an. Noch immer spürte Alestra den Schreck, der ihr in die Glieder gefahren war. Wer, bei allen verdammten Göttern dieser Welt, war er? Ihr Kopf sehnte sich danach diese Antwort so schnell wie irgend möglich zu erhalten, auch wenn sie doch eigentlich schon wusste, wer er war. Er hatte es gesagt oder hatte sie da zu viel hinein interpretiert?

„Alestra, willst du das unserem Gast noch einmal direkt ins Gesicht sagen?", fragte die oberste Heilerin in die Stille, die sich in bedrohlichen Schleiern über den Raum gelegt hatte. Was hatte sie noch gleich gesagt gehabt? Sie kramte in ihrem Gedächtnis bis sie es endlich gefunden hatte. Es kostete sie alle Mühe die Fassung zu bewahren und nicht unter den herausfordernden Blicken einzuknicken. Betont langsam stand sie von ihrem Hocker auf und drehte sich mit einem verwegenen Lächeln zu dem Mann um, dessen Lippen ein provozierendes Grinsen umspielte.
„Ich werde einen Weg finden dich aus dem Weg zu schaffen, Spion, der versucht hat in meinem Schatten zu wandeln und dabei kläglich gescheitert ist."

Alestra genoss es, wie jedes einzelne Wort über ihre Lippen kroch, doch sobald das letzte diese hinter sich gelassen hatte, war sie sich darüber im Klaren, dass es ein Fehler gewesen war. Sein höhnisches Lachen erfüllte den ganzen Raum und Alestra musste die Fäuste ballen, damit nicht eine versehentlich im Gesicht ihres Gegenüber landete und ihn zum Schweigen brachte. Aber ein solcher Fehltritt war ihr noch nie widerfahren und würde es hoffentlich auch nie.
Ohne eine Regung ihrer Mimik schallte die Stimme der Frau, die sie nun als Valyanna kannte, durch das Zimmer.
„Es freut mich, dass eure erste Begegnung so gut verlaufen ist, denn wie es aussieht, werdet ihr noch etwas Zeit miteinander verbringen. Alestra, dein Spion wird dich auf deinem Auftrag begleiten."

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt