Kapitel 1

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Alestra wusste, dass sie beobachtet wurde. Sie hatte es gespürt, kaum dass sie sich durch das Gestrüpp hindurch zum Trampelpfad geschlagen hatte, der sie zurück auf vertrauten Grund führen sollte. Die Schatten hatten sich verdichtet, waren nicht dort geblieben, wo sie hingehörten, sondern ihr auf leisen Sohlen gefolgt. Der Wald schien für sie den Atem angehalten zu haben, um ihn zu entlarven, den Verfolger. Er war nicht unkundig, in dem, was er tat, aber zu laut für eine, die diese Gegend schon ihr ganzes Leben lang kannte, die jeden Baum berührt und jedes Gestrüpp gestreift hatte. Doch dieses Mal kam es Alestra nicht so vor, als wenn sie die Zweige kennen würde, denn sie vergruben ihre Dornen in den weißblonden Haaren und schlugen ihr auf dem ganzen Weg durch die Schleichpfade, die sie früher als Kind ausgekundschaftet hatte, ins Gesicht und hinterließen einige Schrammen. Aber sie waren bei Weitem nicht so tief, wie die, die sie von ihrem Auftrag mitgebracht hatte. Stundenlang war Alestra nun gelaufen und ihre Füße, die nicht ein Erdloch, in das sie hätten treten können, ausgelassen haben, schmerzten. Irgendetwas schien der Wald heute gegen sie zu haben und das wohlige Gefühl, das ihr Herz heimsuchte, wenn sie den altbekannten Pfad vor sich sah und sich ein bisschen zu Hause fühlte, blieb aus. Eigentlich blieb es sogar schon seit längerer Zeit aus. Das Gewicht des Bogens, des Köchers und auch noch ihrer Umhängetasche, in der sich sämtliche Kräuter und Phiolen befanden, zwang sie so langsam in die Knie und sie hatte nicht mehr die Kraft sich jetzt auch noch um einen aufdringlichen Verfolger zu kümmern. Der letzte Auftrag und die Jagd zur gestrigen Abenddämmerung forderten nun ihren Tribut.

Das bereits trockene Laub raschelte, als es unter ihren Füßen zu Staub zerfiel und dieses Geräusch begleitete sie auf ihrem restlichen Weg, während die menschlichen Laute immer näher an ihr Ohr drangen. Eigentlich wünschte sich Alestra nur, dem, was nun auf sie wartete, einfach den Rücken zu kehren. Die Bäume teilten sich und gaben den Blick auf eine lose bewaldete Lichtung frei, über der sich ihre Kronen wieder schlossen und so das Licht nur seicht durch ihre Blätter fließen ließen. Mit den Wurzeln beinahe verschmolzen erhob sich ein weitläufiges steinernes Gebäude und mit seinem strohgedeckten Dach wirkte es, als würde dieses Haus schon immer hierher gehört haben, als würde es ein Teil des Waldes sein. Hier war sie also, an dem Ort, den sie ihr Zuhause nennen musste, da sie nie an einem anderen länger verweilt war.

Es sollte nicht so aussehen, als hätte ihr der Auftrag alles abverlangt. Also richtete Alestra sich auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie spürte die verkrusteten Striemen in ihrem Gesicht und die restliche Nässe, die der Regen hinterlassen hatte. Mit dem weiten Ärmel ihres Kleides, das nun mit all seinen Flecken und Rissen auch nicht mehr zu retten war, wischte sie über ihre Wange. Sie verharrte noch in der Bewegung, denn das, was sie wegwischte, war keinesfalls Wasser. Wasser war nicht schwärzer als die Nacht und auch nicht so zähflüssig, dass es auf ihrer Haut trocknete, und diesen Geruch kannte sie nur zu gut. Alestra starrte auf das Blut auf ihrem Ärmel und an ihrer Hand. Ihre Wange konnte wohl nicht gerade besser aussehen, wenn sie die Nässe tatsächlich für Wasser gehalten hatte. Bei allen Göttern, so durfte sie niemand zu Gesicht bekommen! Betont langsam, ohne Hektik, ging sie weiter und wandte sich den Sträuchern zu, die den Weg säumten. Er beobachtete sie wahrscheinlich noch immer und es wäre schlimm genug, wenn er es gesehen hätte, aber noch schlimmer wäre es, wenn er sähe, wie sie deshalb in Panik geriet. Alestra musste ihn auf den Pfad führen, der ihn denken ließ, dass alles, was sie tat, nicht Teil eines Mysteriums war, sondern dass sie wie jeder hier war.

Es war vollkommen natürlich, dass sie als Kind der Wälder sich durch diese schlug und so ziemlich alles tat, was das Gestrüpp nicht wollte, genauso wie es natürlich war, dass sich eine gerade von ihrem Auftrag zurückgekehrte Heilerin von der Straße abwandte und sich auf die Suche nach dem nahegelegenen Waldsee machte, um sich ihr nachtschwarzes Blut abzuwaschen. Alestra konnte nur hoffen, dass ihr Verfolger eine leichte Neigung zur Naivität hatte und einer jungen Frau nicht zu einem See folgen würde, an dem sie sich waschen wollte. Zwar sprach das alles gegen die Fähigkeiten eines Spions, aber es war doch auch alles eine Sache der perfekt gewebten Lüge, die einen sehen ließ, was man sehen wollte. Die Sonne glitzerte auf dem kleinen See und ihr glänzendes Licht drang durch das Geäst, sodass Alestra ihn schon von weitem gesehen hatte. Sie kniete sich in das weiche Moos am Ufer des Gewässers und ließ ihre langen Finger durch das flüssige Glas gleiten. Nichts konnte die Stille des Wassers trüben. Er lag einfach nur da und ließ die Sonne auf sich tanzen. Wie glücklich wäre Alestra gewesen, wenn sie auch nur ein bisschen Unbeschwertheit genießen konnte, wenn sie einmal einfach nichts tun musste. Doch das musste sie jetzt. Das Blut war schnell abgewaschen und das kalte Etwas auf ihrer Haut ließ sie wieder klarer denken, sodass sie ihre Gedanken auf ihren Plan fokussieren konnte.

Die Tinte auf dem Pergament war noch nicht ganz trocken, als Alestra es zusammengefaltet unter den einzigen etwas größeren Stein in ihrer Nähe legen wollte. Sie hatte ihn zielstrebig angesteuert, nachdem sie die Nachricht hastig geschrieben hatte. Und als sie unter den Stein sah, war da nichts gewesen, auch nicht die Nachricht, die sie sich erhofft hatte. Oder auf die sie gehofft hätte, wenn das alles nicht nur ein riesiges Theater war, um ihren Beobachter in die Irre zu führen. Ihren Bogen wieder über der Schulter genügte ein letzter Blick auf das Gesicht, das aus dem See heraus zu Alestra empor blickte. Die Schramme auf ihren hohen Wangenknochen war zu einem blassen Strich verblichen und ein Lächeln über ihren Triumph wanderte zu den Augen, die die Farbe des Lichts aus dem Norden trugen.

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt