Kapitel 6

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Es kam keine Antwort. Melissa hatte die Augen geschlossen und war augenscheinlich in einen ruhigen Schlaf gesunken. Die Kräuter hatten ihren Dienst erwiesen, nun lag es an Alestra den ihren zu leisten. Glücklicherweise schien die junge Frau es nicht zu bemerken, als Alestra den Alkohol in die Wunde träufelte, ansonsten hätte sie Alestra wahrscheinlich den Kopf abgerissen. Dieses Zeug brannte höllisch und sie geizte nicht mit der Menge, denn vielleicht konnte sie das Gift so vernichten. Wann war sie angeschossen worden? Es konnte nicht lange vor ihrer Begegnung gewesen sein, zu schnell hatten sie die Kräfte verlassen. Wer würde eine einfache Heilerin verletzen oder gar töten wollen. Alestra war Melissa nie oft begegnet, auch wenn sie so nah beieinander wohnten, aber warum sie? Als Heilerin war sie von keinem besonders großen Wert, da sie noch sehr jung und unerfahren war. Der Pfeil war von einer Anhöhe geschossen worden, was im Wald recht einfach war, aber das hieße, dass derjenige sie wahrscheinlich schon länger beobachtet und den richtigen Moment abgewartet haben musste. Alestra konnte sich kaum darauf konzentrieren den Druckverband aus den Leinen anzulegen, so sehr geisterte ihr die ganze Situation durch den Kopf. Sie durfte nicht ihre eigenen Erfahrungen außer Acht lassen, die sie gemacht hatte, kaum dass sie das Gebiet der Gilde betreten hatte. Irgendetwas lief hier gewaltig falsch, doch die Meisterin wäre wahrscheinlich die letzte, die ihr etwas verraten würde. Und zu genau dieser musste sie jetzt eigentlich. Alestra hatte nun getan, was in ihrer Macht stand, um der jungen Frau zu helfen, wie sie es versprochen hatte. Doch irgendwann würde sie wieder aufwachen und dann würde sie in ihr nicht die Frau sehen, die ein Versprechen eingelöst hatte, sondern die, die dafür einen Preis verlangt hatte, die sie bedroht hatte. Sie würde ihren Kopf darauf verwetten, dass sie genau das in ihr sehen würde und nichts anderes. Für gewöhnlich sah man eben nur das, was man sehen wollte. Das war Alestra schon längst gewohnt. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie Melissa beobachtete, wie sie so friedlich dalag und das Licht der sich langsam herabsenkenden Sonne ihrem braunen Haar einen rötlichen Schimmer verlieh. Als wollte dieses Licht ihr ins Gedächtnis fahren und ihr mit allen Mitteln vor Augen halten, wie fatal es wäre, wenn sie sich jetzt nicht beeilen würde. Sie hätte wohl kaum die Meisterin vergessen. Aber sie konnte Melissa nicht einfach so hier zurücklassen, nicht, weil sie alleine völlig hilflos gewesen wäre, sondern weil sie gehen würde. Sie würde einfach durch die Tür hinaus spazieren, hin zu ihren Freundinnen und die ganze Sache würde auffliegen. Alestra musste ihr vorher die Wahrheit sagen, ansonsten wäre alles umsonst.

Fast schon spürte sie kühles Metall schwer in ihrer Hand, so sehr sehnte sie sich den eisernen Schlüssel herbei, der in das Schloss ihrer Tür gehören würde, aber da war keines. Keine der Heilerinnen besaß einen Schlüssel zu ihren Räumen. Natürlich könnte sie die Tür mit der Truhe verbarrikadieren, aber über die Sinnhaftigkeit ließ sich streiten. Nein, es musste eine andere Möglichkeit geben.

Unvermittelt begannen ihre Finger zu zittern. Aschfahl wurden sie, als sich die Wärme aus ihnen zurückzog, und sie spürte, wie die Angst ihr die Farbe aus dem Gesicht wischte. Ein Schlag traf das Holz der Tür. Alestra stöhnte auf, als sie ihre Hand, die die Farbe von bloßen Knochen angenommen hatte, von dem dunklen Holz löste. Splitter hatten sich in das Fleisch gebohrt, doch das spürte sie kaum. Das Zittern hatte sich nicht gelegt. Wie konnte es sein, dass es sie noch immer so plötzlich übermannte? Wieso hatte sie es noch immer nicht im Griff? Es konnte nicht sein, dass die Schatten sie noch immer mit einem Mal verließen und das, wo der Vollmond noch in der Zukunft ruhte. Mit ihrer ebenfalls zitternden Linken umklammerte Alestra ihre andere Hand. Vielleicht, wenn sie sich ausreichend darauf konzentrierte, vielleicht konnte sie die Schatten dann wieder zu sich rufen.

Und dann kehrte die Ruhe wieder zurück in ihre kalten Finger. Es hatte aufgehört. Wie viel Zeit war vergangen? Sekunden? Minuten? Diese Augenblicke hatten keine Zeit. Sie waren von einer besitzergreifenden Leere erfüllt, die Alestra jegliches Gefühl für Zeit nahm.

Ihr Blick hatte sich an ihre gekrümmten Hände geheftet, doch nicht sie begehrten ihre Aufmerksamkeit. Es waren ihre Schatten, die sich in der Tür eingenistet hatten, dort, wo sich die Türklinke befand. Nein. Alestra kniff die Augen zusammen. Irgendetwas passte nicht, irgendetwas wollte sie verwirren. Es dauerte ein paar Augenblicke bis es ihr auffiel. Ihre Sinne hatten sie in die Irre geführt, doch jetzt blendete sie die Klarheit. Der Schatten, den die Silhouette ihrer Hände geformt hatte, war eins mit dem der Türklinke, die ihren eigenen verloren hatte. Oder eigentlich hatte ein Teil von Alestra selbst ihren Schatten verloren. Diese aschfahle Blässe war ein Zeichen dafür, aber der verlorene Schatten schien einen anderen gestohlen zu haben. Verwegenheit, sie war eines der wichtigsten Merkmale der Schatten, die Alestra ständig in den Wahnsinn trieb, wenn sie es nicht sofort erkannte.

Es hatte tatsächlich nur wenige Stunden gebraucht, dass alles an diesem Ort ihr wieder klar machte, wie wenig man sie hier haben wollte und wie sehr sie verabscheut werden würde, wenn irgendjemand erfuhr, dass sie anders war. Die Schatten wollten sie nur noch mehr verhöhnen. Der Blick, den sie der Tür schenkte, hätte töten können. Wie sie es doch hasste, wenn es sie einfach überkam und sie nichts dagegen tun konnte. Und dann holte die Klarheit zum zweiten Schlag gegen sie aus.

Früher hatte Alestra ein kleines Büchlein besessen, kein solches wie das, in dem sie heute ihre Aufzeichnungen aufbewahrte, sondern eines, das nur ein wenig größer als ihre Handfläche heute gewesen war. Das Leder, in das es gebunden war, hatte sie selbst dem Tier abgezogen und durch die Einschussstelle ihres Pfeils hatte sie geflochtenes Pferdehaar als ein Lesezeichen gezogen. Damals war es ihr Ein und Alles gewesen, bis sie gemerkt hatte, dass nicht einmal dort ihre Geheimnisse sicher sein konnten, auch wenn sie es den Schatten hatte versiegeln lassen. Das war nicht das Problem gewesen, aber trotzdem hatte das Lesezeichen nie die letzte Seite erreicht. Damals hatte es sie in eine mehr als missliche Lage gebracht, aber vielleicht konnte es im wahrsten Sinne ihr Schlüssel sein.

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt