Kapitel 9

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Ihr war nicht entgangen, dass die Meisterin das Thema gewechselt hatte, sobald Alestra etwas wissen wollte. Sie musste den Mund halten. Sie war noch nicht bereit für einen neuen Auftrag, aber scheinbar war es genau das, was man von ihr verlangte.

„Alestra, mir ist allerdings etwas zu Ohren gekommen, das mich hinsichtlich deiner Absichten etwas beunruhigt hat und nun etwas daran zweifeln ließ, ob du die Richtige für diesen Auftrag bist." Die Art, wie die hochgewachsene Frau ihre Augenbrauen hochzog, verlieh ihr eine Strenge und Unerbittlichkeit, die Alestra bisher noch nicht an ihr gesehen hatte. Wie kam sie nun plötzlich darauf? Ein paar Augenblicke zuvor ging es noch um einen neuen Auftrag und nun soll sie etwas verbrochen haben, wo sie doch erst vor wenigen Stunden hier angekommen war? Das mit Melissa konnte sie unmöglich wissen. Wenn man sie mit ihr gesehen hat, hätte man doch vielmehr vermutet, dass sie das Mädchen in ihr Zimmer gebracht hätte. Die Drohung hatte nur eine einzige Person hören sollen und Alestra hatte sich versichert, dass es auch so gewesen war.

Wie die Anführerin der Gilde so in ihrem Stuhl saß die Arme beinahe schon provokant auf die Lehnen gelegt, wirkte sie viel größer als Alestra. Die Königin saß auf ihrem Thron. Alestra musste sich bemühen sich nichts anmerken zu lassen, als die oberste Heilerin weitersprach.

„Du kennst die Regeln und weißt, dass es keiner Heilerin gestattet ist ohne Erlaubnis das Gebiet der Gilde zu verlassen und schon gar nicht aufgrund niederer Beweggründe, wie ... ." Gespielt überlegte sie kurz, bevor sie fortfuhr: „Nun ja, wie um sich heimlich mit einem Mann zu treffen oder mit einer ganzen Gruppe. Kannst du mir folgen?"

Mehr als ein kurzes Nicken brachte Alestra nicht zustande, aber für einen kurzen Moment atmete sie auf. Es ging nicht um Melissa und der Tatsache, dass sie hoffentlich noch immer in ihrem Zimmer lag, dass mit Schattenmagie verschlossen worden war. Aber auch nur kurz, denn dann wurde ihr bewusst, dass sie Melissa verraten hatte. Wenn die Meisterin das von ihr wusste, musste sie darüber informiert sein, dass sie nicht die einzige war.

„Ich habe einiges von dir erwartet, Alestra, aber nicht, dass du der Gilde wegen eines Mannes den Rücken kehrst. Schon erst recht nicht du. Andere mögen dich für kalt und unberechenbar halten, aber in meinen Augen bist du sehr berechenbar. Dein Herz ist nicht für die Liebe gemacht. Deshalb frage ich dich nur einmal, Alestra: Was gibt mir den Anlass diesen Aussagen zu glauben?"

Alestra antwortete nicht direkt, sondern starrte ihrer Meisterin in die kühlen Augen. Der Schmerz, den diese Aussage in ihr verursacht hatte, hatte sie gelähmt. Sie war nicht berechenbar. Keiner konnte so viel über sie wissen, um von sich zu behaupten sie durchschauen zu können. Der Ausdruck der grauen Augen verriet ihr, dass sie genau wusste, wie sehr Alestra das getroffen hatte. Sie durfte jetzt nichts Falsches sagen, wenn sie Melissa und vor allem sich selbst schützen wollte. Wenn sie jetzt sagte, dass es keinen Grund gäbe diesen Aussagen Glauben zu schenken, wäre es vorbei. Das wäre wohl die dümmste Antwort, die sie geben konnte. Aber vielleicht konnte ein Funken Wahrheit ihr den Kopf retten.

„Ihr habt, wie auch immer, augenscheinlich ein Gespräch zwischen mir und einer der jüngeren Heilerinnen mitbekommen. Wir haben uns tatsächlich über nächtliche Treffen mit einer Gruppe von Männern unterhalten. Ich fragte sie, ob ich sie begleiten dürfe, da ich selbst jemanden treffen wollte, dem ich zuvor eine Nachricht hinterlassen habe." Alestra wurde jäh das Wort abgeschnitten.
„So, du leugnest dieses Gespräch also nicht." Es war eine Feststellung, keine Frage, aber damit wollte sie Alestra verunsichern.
„Es ist doch durchaus amüsant, wie du die wichtigen Fakten einfach fallen lässt. Wieso sagst du nicht, wie es war? Wieso zierst du dich so die Drohung zu erwähnen oder willst du mir tatsächlich weismachen, dass ihr euch nett unterhalten habt?" Alestra hielt ihrem Blick stand, als sie mit eisiger Stimme sagte: „Allerdings haben diese Treffen nie stattgefunden, Erhabene. Dieses Gespräch war gestellt, zur Schau gestellt, wie es in den Theatern der Städte vollzogen wird. Die Drohung in der, wie Ihr dann wahrscheinlich auch wisst, brenzligen Situation des Mädchens, all das war nicht echt. Um Eurer Frage vorzubeugen, warum nun dieses Theater ... ." Sie machte eine Kunstpause, um ihrem Wortschwall ein wenig Kontrolle zu verleihen. Kein Wort durfte sie darüber verlieren, warum sie das wirklich getan hatte und genauso wenig durfte auch nur ein Wort über die verwundete Melissa über ihre Lippen kommen. Sie brauchte eine Erklärung, warum sie ihren Verfolger und Beobachter in die Irre hatte führen wollen. Warum sollte jemand falsche Informationen verbreiten wollen, wenn er selbst nichts verbarg? Dieser jemand war nun der vollen Überzeugung, dass der Grund, warum sie sich von den Gebäuden der Thironaar entfernt hatte und zum See gegangen war, um sich in Wirklichkeit ihr schwarzes Blut von den Gliedmaßen zu waschen, der war, dass sie einen geheimen Liebhaber hatte, den sie unbedingt treffen musste. Deshalb hatte sie in dessen Augen einen Brief hinterlassen und ein unschuldiges Mädchen erpresst. Natürlich hatte sie den Verfolger auf eine falsche Fährte bringen wollen, aber um der Gilde willen, um sie zu schützen? Vielleicht um einen Augenblick zu bekommen, in dem sie die nächste Heilerin informieren konnte? Aber dann hätte sie nicht so lange damit gewartet zu der Schamanin zu kommen, um ihren Bericht abzugeben oder um Alarm zu schlagen. Alestra schlug das Herz bis zum Hals und bemerkte, wie ihre Gedanken zu verschwimmen begannen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, wenn sie sicher von dieser Bühne kommen wollte ohne sich in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht zu haben. Das war wahrlich das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt