Kapitel 5

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Es war eindeutig der Schatten eines Mannes, der sie aus den Büschen heraus beobachtete, der sich da zwischen den Zweigen in Sicherheit wähnte. Sieh nicht hin Alestra! Wie oft warst du diejenige, die sich in den klaffenden Spalten zwischen den Häusern versteckte, die im Unterholz Schutz suchte, um nicht entdeckt zu werden? Du weißt, wie sie ticken! Er muss sich seiner Verborgenheit sicher sein! Er darf nicht wissen, dass du ihn bemerkt hast! Dann wird er einen Fehler machen!

Ein Blick zu Melissa machte Alestra bewusst, wie sehr die Zeit doch drängte und dass sie doch gar keine Zeit hatte sich um solche Lappalien wie einen Verfolger zu sorgen. Eine krankhafte Blässe hatte sich auf Melissas Wangen gelegt und Alestra bemerkte, dass die Welt für sie langsam ihre Konturen zu verlieren begann. Sie musste sie bei Bewusstsein halten. Das war es, worauf es nun ankam und nichts anderes. Sprechen. Sie musste mir ihr sprechen, wenn sie nicht wollte, dass sie in ihren Armen ohnmächtig wurde.

„Melissa!" ihr schwacher Körper regte sich etwas, doch verließ kein Laut ihre Lippen. „Melissa ich wollte dich noch etwas fragen. Du warst es doch, die mich früher einmal gefragt hat, ob ich euch bei einem eurer Ausflüge begleiten würde. Erinnerst du dich? Ihr wolltet euch mit den Männern im Wald treffen sagtest du." Alestra wusste genau, dass sie gerade einfach so über ein wohlgehütetes Geheimnis sprach. Ein Geheimnis, das in keinem Fall an die Ohren der Meisterin dringen sollte.

Melissa schreckte hoch. Ihre Augen fanden sie nicht sofort, doch in ihnen stand ein Anflug von Panik. Mit röchelnder Stimme sagte sie: „Verdammt, Alestra, wir haben dir das im Vertrauen gesagt und nicht, um es so herauszuposaunen. Wenn du das noch einmal hier draußen ansprichst, dann ... ." Ihre Stimme versagte. So direkt war das zwar nicht geplant gewesen, doch dann würde Alestra wohl einfach einen anderen Pfad wählen müssen, solange der Zweck erfüllt war. Alestra richtete sich auf.

„Was ist dann, Melissa? Was sollte denn dann mit mir geschehen? Du solltest einem erst drohen, wenn du weißt, dass du die Drohung auch erfüllen kannst und das sieht momentan nicht so aus. Oder sollte ich sagen es sieht für dich momentan nicht gut aus? Du bist auf meine Hilfe angewiesen. Das weißt du."

Alestra war mittlerweile stehen geblieben und hatte die Kälte wieder von sich Besitz ergreifen lassen. Noch immer stützte sie Melissa, weil sie ohne sie bestimmt nicht mehr lange stehen würde. Bedauern kroch ihren Körper hinauf. Sie wusste, wie schmerzhaft es war, verraten zu werden, zu erfahren, dass Hilfe immer einen Preis hatte. Und er war noch höher, wenn das eigene Leben davon abhing. Alestra spürte den Blick wie ein Messer in ihrer Brust, doch es war nicht der Melissas und das verschaffte ihr mit einem Mal die Gewissheit, dass an diesem Tag wenigstens etwas nach ihrem Plan verlief. Melissas Zorn lag knisternd in der Luft und ließ die nächsten Worte beinahe schrill erklingen. „Wie kannst du nur? Du wolltest mir helfen!"

„Das werde ich auch, aber alles hat leider seinen Preis. Ich musste ihn schließlich auch bezahlen, das weißt du."

„Was willst du? Du kannst von Glück reden, wenn das niemand gehört hat. Ansonsten waren genügend Mädchen dabei, die dich das bereuen lassen würden."

„Nein, du kannst von Glück reden. Ich will nur eine Sache. Lasst mich das nächste Mal mitgehen. Ich werde auch jemanden treffen. Alleine wird es zu gefährlich sein, aber ihr kennt einen Weg. Ihr wäret dabei. Ich habe ihm bereits eine Nachricht hinterlassen und er wird da sein. Ihr kennt die einzige Möglichkeit ungesehen von hier wegzukommen, ohne dass ihr verdächtigt werdet."

Ihre Augen waren immer größer geworden und für einen Moment glaubte Alestra, dass sie nicht mehr jeden Moment zusammenklappen würde. Aber auch nur für einen Moment.

„Das ist das Einzige, was du willst? Du bist so naiv, wenn du glaubst du könntest dir deine Freunde erkaufen. Ich wusste, es hat einen Grund, dass du ständig alleine bist, dass niemand etwas mit dir zu tun haben will."

Der Schmerz fuhr ihr ins Herz und Alestra wusste, dass sie den Dolch, den Melissa mit ihren Worten geschmiedet hatte, nicht mehr aus ihrer Brust ziehen konnte. Diese Worte ... sie hatten etwas herausgerissen. Wenn sie etwas nicht war, dann naiv. „Melissa, ich habe versprochen dir zu helfen. Also werde ich das auch. Komm! So weit ist es nicht mehr."


Melissa stöhnte auf vor Schmerz, als Alestra sie in die Kissen drückte. Das Blut hatte ihr Gewand völlig durchweicht und bereits Spuren auf den weißen Laken hinterlassen. Alestra zwang ihre Finger ruhig zu bleiben. Es war ungewohnt zu sehen, wie ihre Finger zitterten, als sie über die Regalbretter huschten und nach losen Kräutern und Salben suchten. Wieso hatte sie auch die Samolus wieder zurückgegeben, jetzt wo sie am dringendsten ein blutstillendes Mittel suchte? Normalerweise war es leicht für sie einen kühlen Kopf zu bewahren, doch nun rann ihr stattdessen der kalte Schweiß über den Nacken, als sie die kleinen Blättchen mit ihrer betäubenden Wirkung zermörserte und gleichzeitig noch versuchte mit den Zähnen ein Leinentuch in Streifen zu reißen. Sie musste irgendwie das Blut stillen, das eigentlich schon längst anfangen sollte zu gerinnen. Mit zwei Schritten hatte Alestra den Raum durchquert und flößte Melissa die in Wasser gelösten Kräuter ein. Sogleich entspannte sich der Körper des Mädchens, sodass auch ihr Kopf träge in die Kissen sank. Ihre Tasche, die Alestra ihr auf halbem Wege schließlich abgenommen hatte, lag bereits in der anderen Ecke des Raumes, wo Alestra sie hingeworfen hatte. Noch immer lagen Schichten von Stoff über der Wunde. Alestra zögerte nicht lange und zertrennte die groben Maschen mit ihrem Jagdmesser, darauf bedacht ihre noch immer zitternden Finger einem festen Griff zu übergeben, um das Mädchen nicht weiter zu verletzen. Nach drei Lagen Stoff, die allesamt blutdurchtränkt waren, konnte Alestra endlich die Verletzung freilegen. Von der untersten Rippe bis zum Hüftknochen zog sich eine klaffende Wunde, doch ein Blick sagte Alestra, dass sie nicht besonders tief gehen konnte. Sie hatte schon oft solche Wunden gesehen: ein klassischer Streifschuss. Kein besonders sicherer Bogenschütze. Eine unruhige Hand, sonst wäre sie gerade verlaufen. Von einer Anhöhe geschossen, sonst würde die Wunde nicht eine solche Linie beschreiben.

Doch ein Detail war ihr sofort ins Auge gefallen: die Ränder hatten sich dunkel verfärbt, wie es nur wenige Gifte zu verursachen vermochten. Es war nicht wie das Gift, dem der Kriegsveteran zu Opfer gefallen war, es war auch nicht tödlich, sondern verzögerte die Blutgerinnung minimal. Doch lang genug, um jemanden verbluten zu lassen. Alestra wandte den Blick von ihren blutüberströmten Händen ab und starrte Melissa an. „Wer hat dir das angetan?"

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt