Kapitel 10

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„Elias!", hörte ich meinen Vater überrascht ausrufen. Meine Mutter horchte bei dem Namen selbst auf und schaute zur Wohnzimmertür, als könnte dort jeden Moment jemand durchkommen. Ich dagegen war dermaßen angespannt, dass sich kein Muskel mehr rührte.

„Sie sehen gut aus, Herr Frimmel. Ist Caro da?"

„Ja, im Wohnzimmer. Soll ich sie holen? Nein, komm ruhig rein. Du kennst dich ja aus", rasselte mein Vater herunter und dann wurde die Tür geschlossen. Augenblicklich sprang ich vom Sofa auf und überlegte durch die Terrassentür zu verschwinden. Nachdem ich ihn gestern weggeschickt hatte, hatte ich erwartet, diesen Jungen nie wiederzusehen. Er hatte anscheinend eigene Vorstellungen von einer Abweisung.

Elias schritt zuerst in den Raum hinein, gefolgt von meinem Vater. Der Schock breitete sich rasend im Gesicht des Fremden aus, als er den Rollstuhl erblickte, der gleich neben der Couch stand. Man konnte genau beobachten, wie sprachlos ihn das Bild meiner Mutter machte, die vor zwei Jahren noch sportlich aktiv gewesen war. Jetzt, mit nur einem Bein, war sie sehr eingeschränkt.

„Hallo, Elias", grüßte meine Mutter freundlich. „Dein Besuch ist überraschend."

„Ja, ich..." Er stutzte, suchte in seiner entgeisterten Fassung nach den richtigen Worten. „Ich habe Caro getroffen und sie hatte erwähnt, dass sie noch hier wohnt. Ich wusste nicht..."

„Setz dich doch, mein Junge", schlug mein Vater vor. „Du bist gewachsen, oder? Aus dir ist ein richtiger Mann geworden." Beide Männer setzten sich auf das Ecksofa. Ich blieb wie erstarrt stehen, sah auf den Jungen herab, der sich den Platz neben mir genommen hatte. Er knetete nervös seine Hände, rang ganz offensichtlich um seine Fassung.

„Entschuldigen Sie, dass ich so früh hier rein platze. Ich wollte Caro unbedingt sehen. Sie konnte mir gestern nichts sagen und ich hatte gehofft", sah er nun zu mir, „dass du heute mehr erzählen könntest."

„Nein", schoss es aus mir heraus.

„Carolin, beruhige dich bitte", bat meine Mutter. „Setz dich hin. Er ist deinetwegen gekommen. Empfängt man so seinen Besuch?" Ich setzte mich, sackte in mich zusammen. Auf keinen Fall wollte ich über den Unfall reden, über das Koma und den Verlust. Mir war über Nacht klar geworden, weshalb ich es nicht erzählen konnte und wollte. Ich wollte kein Mitleid.

„Seit wann sind Sie wieder hier? Ich war vor einem Jahr im Januar das letzte Mal hier, da war das Haus noch verlassen."

„Wir hatten auf dem Heimweg in den damaligen Ferien einen schweren Unfall", erzählte mein Vater gerade raus. „Du musst mich verpasst haben, Elias. Man hatte mich schon früh entlassen, weil es mich nicht so schwer erwischt hat, wie meine beiden Frauen. Sie lagen deutlich länger im Krankenhaus. Hat dir Carolin denn gar nichts erzählt?"

„Caro sagte nur, dass sie Erinnerungsprobleme hat. Mehr weiß ich nicht. Die Schule hat damals auch nichts erzählt, sonst hätte man Caro doch besucht." Während sich mein Vater und Elias unterhielten, war dieses Gespräch für Mama und mich sehr schwer. Sie litt genauso stark unter dem Unfall und den Folgen. Wir hatten beide etwas verloren und mussten zusehen, wie wir ohne zurechtkamen. So stark wir für den einzigen Mann im Haus auch waren, so schwach waren wir in diesem Moment. Die Erinnerungen, wie ich wochenlang im Krankenhaus geblieben war, laufen lernen und die Informationen verarbeiten musste, dass bereits über ein Jahr vergangen war, waren verdammt schmerzvoll.

„Ich habe der Schule gesagt, dass Carolin den Jahrgang nicht zu Ende machen kann und sie abgemeldet. Das war auch die richtige Entscheidung." Mein Vater sah mich mitfühlend an, schenkte mir ein warmes Lächeln. „Möchtest du mit Elias alleine darüber reden?"

„Nein. Und du auch nicht. Keiner! Ich will nicht..." Abrupt stand ich auf und eilte in mein Zimmer, in dem ich mich einschloss und meinen Tränen freien Lauf ließ. Ich wollte kein verdammtes Mitleid. Reichte es denn nicht, dass meine Eltern schon genug Mitleid mit mir hatten?

Elias erfuhr nach meinem Ausbruch nichts mehr, aber das musste er auch nicht. Er hatte genug in Erfahrung gebracht.

Verlust #catalyst500Where stories live. Discover now