Kapitel 01

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„Unsinn!"

„Nein, ehrlich! Er ist direkt in dieses Mädchen gelaufen und hat das ganze Mittagessen über sie verteilt." Die Mädchen kicherten albern. So war das wohl mit Schülern, die in ihrer Pubertät steckten und anfingen über alles und jeden zu tratschen. Die lächerlichsten Dinge schienen dann interessant zu sein und wurden zum Gesprächsthema. Mir war das schon oft aufgefallen, wenn ich meine Zeit im Park oder der Buchhandlung verbrachte. Mädchen sprachen über Jungs, wie süß sie die doch fanden und was sie besonders machte, während die Jungs wetteiferten, wen sie als nächstes ins Bett bekommen könnten.

„Die muss doch total sauer gewesen sein!", sagte die Erste belustigt.

„War sie auch. Sie hat ihn angeschrien und total fertig gemacht", pflichtete man ihr bei. „Aber jetzt sind die zusammen." Ich sah nicht von meiner Lektüre auf, während sich die beiden Mädchen so laut unterhielten und es anscheinend sehr amüsant fanden, dass man durch einer zufälligen Begegnung zu einem Paar werden konnte. Es hatte mit Sicherheit sehr lustig ausgesehen, wie er in das Mädchen gelaufen und sie mit Essen vollgeschüttet hatte, doch empfand ich es schon als romantisch, dass sie sich dadurch gefunden und verliebt hatten.

Ich schlug eine Seite um, las in Ruhe weiter. Die Sonne schien an diesem Samstag warm vom Himmel, wärmte meinen Rücken und Nacken. Der Brunnen spritzte sein Wasser tropfenweise auf meine Kleidung, was mich nicht weiter störte. Dank der warmen Sonnenstrahlen trocknete es so schnell, dass ich kaum bemerkte, überhaupt nass zu werden.

Die beiden Mädchen gingen ihren Weg weiter, unterhielten sich noch immer über das Paar. Um mich herum war es recht laut. An so einem warmen Herbsttag besuchten viele Leute diesen Ort. Auf dem Platz, wo der Brunnen angebaut worden war, spielten Kinder fangen. Sie schrien, lachten und hier und da hörte man auch ein Kind weinen. Erwachsene saßen auf den Parkbänken, unterhielten sich angeregt. Paare hatten es sich mit Decken auf den Wiesenflächen gemütlich gemacht, tankten die letzten warmen Sonnenstrahlen, bevor der Herbst seine Auswirkung richtig zeigen würde. Spaziergänger führten ihre Hunde aus. Es war viel los.

Dieser Ort war mir vertraut. Das war alles, was mir noch geblieben war. Ich hatte gehofft, hier ein Gesicht zu finden, dass mich erkennt und mir helfen kann, jedoch ohne Erfolg. Seit fast einer Woche kam ich täglich her und hatte niemanden gefunden, obwohl hier die unterschiedlichen Menschen waren. Niemand hatte mich angesprochen oder mich für einen längeren Moment angesehen. Es war keiner da gewesen, der mich erkannte.

Die Gesichter, die ich als Erinnerung in mir trug, waren keine wichtigen Personen mehr. Ich wusste, dass sie nicht mehr zu mir gehörten und wir keinerlei Verbindung besaßen. Also suchte ich auch nicht nach diesen Menschen. Es musste andere Leute geben. Leute, die mit mir befreundet waren und mir auf die Sprünge helfen konnten, damit ich mich wieder erinnerte.

Der Brunnen war mir am stärksten in Erinnerung geblieben. Er war ein Platz, an dem ich seit vielen Jahren meine Zeit verbrachte. Ich war schon als kleines Mädchen auf den Rand geklettert und hatte meine Runden darauf gedreht. Manchmal war ich hinein gefallen, hatte von meinen Eltern Ärger bekommen aber ich fand mich dennoch immer wieder auf dem Rand. Der Brunnen war mein Spielplatz gewesen und war es noch immer. Ich mochte das kühle Nass, mochte den Rand und balancierte noch immer sehr gerne darauf.

Ich seufzte leise und klappte das Buch zu, hüpfte auf den Boden und nahm den Weg nach Hause. Auch heute war wieder niemand hier. Vielleicht existierten auch bloß keine Leute mehr in dieser Stadt, die mit mir befreundet waren. Es war immerhin viel Zeit seit dem Unfall vergangen.

Verlust #catalyst500Where stories live. Discover now