Kapitel 10 | Nadel und Faden

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"Hey Jackieboy, das sieht echt beschissen aus da draußen", brummte eine tiefe, kratzige Stimme von der Tür. Gabriel hob ruckartig den Kopf und starrte den fremden Mann an. Lässig lehnte er im Türrahmen, während er mit hochgezogener Augenbraue Gabriel begutachtete.
"Was haben wir denn da?", ein leicht hämisches Grinsen schlich sich auf sein schmutziges Gesicht. Der schelmische Ausdruck in seinen blauen Augen ließ jeden, den er so anschaute, einen Schritt zurück machen. Man konnte beinah das Motoröl riechen, das auf seinem blauen Overall verteilt war.

"Hey Tig.", Jax nickte ihm grüßend zu und drückte sich vom Boden hoch.
"Bist du die kleine Schwuchtel vom Immobilienhai?", erkundigte sich Tig, noch immer mit diesem ekelhaften Grinsen auf dem Gesicht. Wäre Gabriel nicht durch eine verdammte Glasscherbe die in seinem Fuß steckte verhindert, wäre er vielleicht aufgesprungen und hätte ihm ins Gesicht gespuckt.
Vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht hätte er ihn auch nur missbilligend angeschaut und gar nichts gesagt. So wie jetzt.
Schwuchtel.
Der letzte Mensch, der ihm diese nette Bezeichnung an den Kopf geworfen hatte, war sein Vater gewesen.

Jax stellte sich vor Tig und unterbrach somit den Augenkontakt zwischen diesem und Gabriel.
"Was meinstn du?", hakte er vorsichtshalber nach, um ihn von dem Jungen abzulenken.
In Tig's Kopf ratterte es kurz, ehe er seinen Blick Jax zu wandte. "Huh? Oh- ja, da geht ne Blutspur durch's ganze Clubhaus. Schaut aus als hätte hier jemand ein halb geschlachtetes Schwein durch die Gegend getragen." Sein Grinsen wurde noch etwas breiter.
Jax schüttelte den Kopf und legte seine Hand auf Tig's Schulter.
"Tu mir doch den Gefallen und sag Halfsack er soll's wegwischen."
"Alles klar. Aber vorher bräuchtet ihr vielleicht 'nen Sanitäter?", mit einem kurzen Kopfnicken deutete er über Jax Schulter zu Gabriel.
Jax drehte sich seufzend um und hielt inne.
"Verdammte scheiße. Das kann ja echt noch lustig werden."
Augen rollend befahl er Tig sofort nach Chibs zu suchen.
"Er soll seinen Arsch hier her bewegen und den Koffer mitbringen! Ich hab kein Bock auf nen Krankenwagen auf unserem Hof."

Gabriel hatte erneut heldenhaft versucht, die längliche Glasscherbe aus seinem Fuß zu ziehen. Da sie sich jedoch nicht nur in seinen Fuß, sondern vorher auch noch durch seine Schuhe gebohrt hatte, war er bei dem Versuch kläglich gescheitert.
Gabriels Nerven hatten sich das keine zwei Sekunden lang angetan und waren ohne große Umschweife in den Urlaub gefahren.

Bewusstlos hing er in Jax Armen, der ihn aus seinem Schlafzimmer hinaus trug und zur bevorstehenden ambulanten Operation einfach auf die Theke im großen Aufenthaltsraum packte.
Tatsächlich war dieser Ort, an dem er vorhin noch sein Frühstück in sich rein geschaufelt hatte, zwar nicht der erste bei dem man eine Operation dachte. Allerdings gab es bei den Son's und ihren weniger legalen, ausgelagerten Geschäften, des öfteren die ein oder andere Verletzung. Und da die Theke das Einzige im Clubhaus war, von der man Blutflecken am leichtesten entfernen konnte, wurde diese des öfteren für solche Zwecke missbraucht.
Die Polizei wurde einfach zu schnell hellhörig wenn ein Krankenwagen in Richtung "Teller & Morrows" fuhr...

"Bin schon da! Schon da. Hey Jax, wer ist denn mein Patient?", fragte Chibs. Der Mit-Vierziger mit dem leicht irischen Akzent marschierte zügigen Schrittes auf die Beiden zu und knallte einen großen, roten Koffer auf den Barhocker neben der Theke. Jax stand hinter der Bar und goss hochprozentiges in ein großes Glas, in dem bereits ein Röhrchen steckte.
"Peter Leith's Sohn", verkündete er knapp. Zwei weitere, wesentlich kleinere Gläser folgten dem ersten. Das Erste wurde von ihm selbst geleert, das Zweite bekam Chibs.
"Oh-... der Peter Leith, dem das Grundstück zum Waffendepot gehört? Okay... Wie kommt der zu uns?", hakte er etwas verwirrt nach, machte sich aber gleich daran, sich die ungünstige Situation etwas genauer anzuschauen.
"Na das sieht aber nich' schön aus."
"Tja, das ist ne Geschichte, die ich dir vielleicht später erzähle."
Chibs hob den Kopf und warf Jax einen verständnisvollen Blick zu. Tig kam wieder zu ihnen und kaute auf einem Zahnstocher herum, während er sich mit einer Hand durch die dunklen Locken fuhr.
"Interessant", kommentierte er die Szene, die sich ihm bot. Während Chibs den Koffer öffnete, in dem sich allerlei Verbandszeug, Tupfer, Scheren, dunkelbraune Glasflaschen und anderes Arzt-Besteck befand, versuchte Jax gerade, den Jungen wieder aufzuwecken.
Leicht über ihn gebeugt schob er mit Daumen und Zeigefinger seine Augenlider auseinander und leuchtete mit dem Kamera-Licht seines Telefons hinein.
Gabriels Pupillen wurden deutlich kleiner und er zuckte leicht zusammen.
"Verdammt-", Jax warf sein Handy neben sich und packte Gabriels Schultern. Etwas unsanft drückte er ihn auf die Theke.
"Pack mal mit an!", befahl er Tig, der sich das nicht zwei Mal sagen ließ. Er kletterte schwungvoll auf die Theke und setzte sich auf Gabriels Beine.
"Jungs, haltet ihn gut fest, wenn der jetzt aufwacht, dann-"
Chibs hob die Brauen und warf beiden einen ernsten Blick zu. Sie nickten gleichzeitig.

Innerhalb weniger Sekunden passierten einige Dinge auf ein Mal.
Chibs, der sich Einweghandschuhe übergestreift hatte, zog Gabriel die Scherbe aus dem Fuß, dieser Wachte in eben diesem Moment auf und schrie vor Schmerz.
Er schlug um sich, wurde allerdings von Tig daran gehindert, der seine Handgelenke auf die Theke drückte.
Chibs zog ihm ruckartig den Schuh aus und drückte einen dicken, in Alkohol getränkten Wattebausch auf die Fußsohle.
Mit einem markerschütternden Schrei verkrampfte sich Gabriels gesamter Körper.
Als würde er über Scherben und Feuer zugleich laufen, brannte ihm der Fuß. Eine Geburt stellte er sich weitaus weniger schmerzhaft vor.
"Shh-, halt durch, ist gleich vorbei", beteuerte Jax, der auf ihn herab schaute. Gabriel biss sich auf die Lippe, bis diese blutig war, während Chibs ihm den Schnitt reinigte und dann mit Nadel und Faden fein säuberlich verschloss.
Gabriel kämpfte mit sich, mit dem Brennen und mit der Tatsache, dass ein wildfremder, alter Kerl auf ihm saß und ihn fest hielt.
Tränen des Schmerzes bahnten sich ungewollt den Weg an die Oberfläche und liefen ihm langsam an den Schläfen hinab.
"Nur noch ein Stich- ... so, das wäre geschafft!", verkündete Chibs seufzend und legte die Nadel in eine Metallschale. Er streifte sich das Latex von den Händen und wischte mit einem großen Lappen die gröbste Sauerei von der Theke.

Gabriel schnaufte, als hätte er einen Marathon hinter sich, den er Barfuß und in einer heißen Sandwüste gelaufen wäre. Jax hielt ihm das große Glas mit Whiskey vor die Nase.
Tig grinste nur blöd.
"Tig"
"huh?"
"Runter von ihm."
"oh ja. Sorry."
Schnell hüpfte er von der Theke und Gabriel konnte sich aufsetzen. Deutlich mitgenommen starrte er auf seinen Fuß, der zwar noch immer stark pochte, dies nun aber deutlich besser zu ertragen war.
"Hier, trink."
Gabriel blickte zu Jax, der ihm noch immer das Glas mit Whiskey entgegen streckte.
Wortlos nahm er es an sich, griff nach dem Strohhalm und schnippte diesen aus dem Glas.
Die drei Anwesenden machten das gleiche überraschte Gesicht, als der Junge den gesamten Inhalt mit zwei Schlucken hinter sich brachte, sich mit dem Ärmel über den Mund fuhr und Jax das leere Glas hin streckte. Anerkennend nickend machte sich Tig auf den Weg zurück in die Werkstatt, wo er seine Arbeit hatte liegen lassen.
Gabriel sah nun zum ersten Mal seinen >Sanitäter< und starrte ihn ein wenig unhöflich an.
Unhöflich deshalb, weil man Kindern beibrachte, nicht auf die Narben anderer Menschen zu starren. Aber wie sollte das gehen, wenn sie sich mitten im Gesicht desjenigen befanden?
Chibs sah alt und verbraucht aus. Die müden Augen wurden von Tränensäcken unterstrichen und der grau-schwarze Bart ließ ihn noch etwas älter wirken, als er ohnehin schon aussah. Fast wie ein komischer Onkel, den jeder irgendwo in der Familie hatte.
Doch was Gabriels Blick so hemmungslos anzog waren zwei langgezogene Narben, die sich von beiden Mundwinkeln bis hin zum Kiefer streckten.

Chibs genehmigte sich ebenfalls noch einen Kurzen und wandte sich dann Gabriel zu, der ihn noch immer an starrte.
Als würde er seine Gedanken lesen, setzte er sich auf einen der Barhocker und deutete auf die Narben in seinem Gesicht.
"Das nennt man das Glasgow-Lächeln", murmelte er mit irischem Akzent.
"Ist'n Souvenir. Hab ich von einer Heimatreise mitgebracht", er zwinkerte leicht und Gabriel blinzelte seine Verwirrtheit weg.
"Nettes Souvenir..."
Jax, zu Gabriels linken, lachte kurz und hielt ihm das Glas hin, das er noch einmal befüllt hatte.
"Das ist Chibs", kommentierte er Gabriels fragenden Blick.
"Er ist unser Sanitäter. Ist der Einzige der uns wieder zusammenflicken kann."
Gabriel nahm ihm das Glas ab und hielt es sich an die Lippen.
"Danke dafür", murmelte er in den Whiskey und kippte auch diesen ziemlich zügig runter.
Chibs kratzte sich am Kinn, zuckte mit den Schultern und erwiderte: "Kein Ding. Wer auf meinem Tresen liegt wird mir nich verbluten. Außerdem war die Scherbe gar nicht so weit drin. Du solltest in ein oder zwei Tagen wieder laufen können." Er erhob sich und packte den Koffer zusammen.
"Ich muss zurück in die Werkstatt, hab 'nen Chevrolet auf der Hebebühne"
"Alles klar, danke Chibs", Jax hob zum Abschied die Hand und wandte sich dann Gabriel zu.
"Und bei dir?", hakte er nach, "Alles klar soweit? "
Gabriel stellte das Glas ab und nickte leicht, während er den Blonden musterte.
Er spürte, wie der Alkohol seine Schmerzen ein wenig linderten und wie sich die gewohnte Wärme in ihm ausbreitete.
Ein zaghaftes Schmunzeln huschte ihm übers Gesicht und er drehte Jax den Rücken zu, bevor dieser seine roten Wangen sah.

"Wenn ich hier bleiben soll", er schaute an sich hinunter und betrachtete sein zerlumptes Aussehen.
"Dann brauch ich noch ein paar Klamotten..."

the Anarchy of the HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt