26 - Kein Mensch

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Irgendwann zwischen dem Sortieren der Blätter, die aus irgendeinem Grund nicht geordnet waren, musste ich wohl eingeschlafen sein. Die Sonne ging bekanntlich immer schneller auf, wenn man beschäftigt war. Denn mich erwartete eine neue Vision – hochaktuell, oder eher nicht.

„Meine Damen, es ist höchste Zeit, aufzustehen und sich zurecht zu machen", durchschnitt eine harsche Stimme die abendliche Ruhe.

Verschlafen drehte ich mich auf die andere Seite, um zumindest etwas von den Geräuschen draußen auszublenden, doch keine Chance, mein Vampirgehör war so gut wie eh und je. Nun klopfte auch noch jemand zwei Mal fest an die Tür, woraufhin meine Zimmergenossin Leyla ihr Kissen wütend dagegen schmiss, wohl wissend, dass man es auf dem Flur hören konnte. Ich schüttelte leicht belustigt meinen Kopf und stand dann widerwillig auf, während sie noch immer die Tür mit Blicken erdolchte, als könnte sie dadurch Löcher hinein brennen.

So lief es für gewöhnlich jeden Abend ab. Doch sobald ich erst einmal auf den Beinen war, schwand die Müdigkeit rasch und ich konnte die Nacht vollends ausgeruht beginnen. Schnell machte ich mich fertig, während Leyla inzwischen übergegangen war, griesgrämig ihr Bett zu machen. Vor der großen Pause sprach man sie am besten nicht an, da es schmerzhaft werden könnte, wenn sie einen als Gegner für ihre unzähligen Kampfsportarten benutzte. Mit einem gemurmelten Abschiedsgruß in ihre Richtung hastete ich aus dem Raum, ich war bereits viel zu spät für die abendliche Versammlung. Leyla hatte noch eine halbe Stunde Zeit, da in diesem Monat die Wandelbaren zuerst an der Reihe waren. Als die Glockenschläge schon zu hören waren, sprintete ich los und konnte gerade noch so in den Saal schlüpfen, bevor die großen Flügeltore geschlossen wurden. Ich nahm meinen Platz ein – zweite Reihe, dritte von links – und versuchte so auszusehen, als wäre ich schon seit eher hier gewesen.

Es war seltsam, die Burg in einer anderen Zeit zu sehen. Ich hatte noch nie eine Vision aus einer so frühen Zeit gehabt. Die Klamotten waren altmodisch gewesen, die Mädchen hatten alle Röcke getragen und bei der Versammlung standen sie klar getrennt von den Jungs, ich musste wohl davon ausgehen, dass es sich um 1836 abgespielt hatte, denn abgesehen von den Blättern hatte ich im Zimmer nichts Neues, das Visionen hätte auslösen können.

Ich fing an, so oft es ging, in dem Tagebuch zu lesen. Nach dem Unterricht verschwand ich mit meiner neuesten Lektüre in mein Zimmer – zusammen mit den Visionen hatte ich das Gefühl, wirklich dabei gewesen zu sein, alles hautnah mitzuerleben. Es war besser als Kino, doch ich bezweifelte stark, dass Penelope das im Sinn hatte, als sie sagte, so könnte ich aus der Vergangenheit lernen. Aber was sollte daran so verwerflich sein, seine Gabe zuzulassen? Es war schließlich nicht so, als würde ich die Leute zwingen, mir ihre Geschichten anzuvertrauen. Liz' traumatische Ereignisse schossen mir durch den Kopf. Ich konnte nicht verhindern, dass Gewissensbisse meine Laune trübten. Doch ich konnte nichts für sie tun. Die Dinge waren längst vergangen. Und selbst wenn ich ihr helfen könnte, wäre es doch äußerst unwahrscheinlich, dass sie meine Unterstützung dankbar annehmen würde. Zumindest versuchte ich somit mein Gewissen zu beruhigen. Um mich selber davon abzuhalten, mir ausgerechnet über Liz den Kopf zu zerbrechen, blätterte ich weiter die Blätter durch. Die meisten Visionen waren alltäglich, der Unterricht lief strenger ab, aber sonst erinnerte es mich sehr an heute. Es überraschte mich, dass ich Alltagsszenen zu sehen bekam. Vielleicht stimmte es doch nicht ganz, dass nur Ereignisse mit starken Gefühlen Visionen auslösten. Oder aber das Tagebuch hatte solch eine große Bedeutung für sie gehabt, dass dadurch alle Geschehnisse dieser Zeit weitergetragen wurden. Ich hatte nie behauptet, ein Profi zu sein, was Schlussfolgerungen anging. Eher verstrickte ich mich in haarsträubenden Verschwörungstheorien, als etwas wirklich Sinnvolles auf den Punkt zu bringen. Wie dem auch sei. Zurück zu der jungen Frau. Jedenfalls nahm ich an, dass sie nicht viel älter als ich sein konnte. Leyla schien etwa siebzehn oder achtzehn zu sein, also nahm ich an, dass ihre Mitbewohnerin ebenfalls in dem Alter gewesen sein musste. Irgendwann fing ich – sie – an, mich hinauszuschleichen. Aus ihrem Verhalten schloss ich, dass es verboten war, auch wenn ich noch nicht verstand wieso. Auch diese Visionen waren harmlos, auffallend normal, sie spazierte durch die Natur, schnappte etwas frische Luft und brachte mich somit dazu, mich immer öfters draußen hinzusetzen, um zu lesen. Doch die nächste Vision traf mich unvorbereitet, gelinde gesagt, wobei dies eine ziemlich Untertreibung war.

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⏰ Last updated: Dec 22, 2017 ⏰

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