20 - Wiedersehen

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Ich wachte mit einem Gefühl absolutem Horrors auf, das war ja kaum auszuhalten. Wieso musste ich von meiner Erzfeindin träumen, die erst zu Hause Schläge erdulden musste, von ihrem Freund sozusagen vergewaltigt und dann allein gelassen wurde? Was ihr angetan wurde war absolut grauenhaft, egal, wie sehr ich sie verabscheute, so etwas wollte ich bestimmt nicht sehen. Das änderte aber auch nichts daran, dass sie mich verachtete, wie sie mir wieder einmal im Speisesaal deutlich gezeigt hatte. Mag sein, dass ich unter Paranoia litt, doch mit dem ständigen Gefühl, andauernd feindselig beobachtet zu werden, ließ sich nur schwer essen. Nach dem Frühstück, das sonst ohne weiteren Vorkommnisse verlief, ging es abermals zum Unterricht. Ich fragte mich, ob ich mich schlecht fühlen sollte, dass ich nicht mehr Mitleid aufbringen konnte. Jemand anderes – sagen wir mal eine gute Person – wäre wohl zu ihr gegangen und hätte versucht, die Streitereien zu bereinigen, vielleicht auch mit ihr über ihre Probleme zu reden. Doch ich unterlag nicht der Illusion, dass sie mir wie jemand Gesittetes zuhören würde. Nennt mich egoistisch, nennt mich voreingenommen, doch ich konnte einfach keine Sympathie für sie aufbringen, wenn sie sich mir gegenüber wie ein Miststück der schlimmsten Sorte benahm. Immerhin sah ich sie außer bei den Mahlzeiten nur selten.

Langsam lebte ich mich ein. Die restliche Zeit hier war sehr schön, auch wenn ich meine Familie vermisste, doch meistens war ich so beschäftigt, dass ich nicht dazu kam, zu viel über sie nachzugrübeln. Allmählich gewöhnte ich mich an die immer wiederkehrenden Tages- oder eher Nachtabläufe. Und so wurden aus Tagen Wochen, die wiederum zu Monaten wurden. Auch wenn langweilig das letzte Wort wäre, mit dem man das Leben hier beschreiben könnte, so entwickelte ich langsam eine Routine. Kurz vor Sonnenuntergang stand ich auf, machte mich fertig, traf auf dem Weg zum Speisesaal meistens Sorcha, da sie nur einige Zimmer weiter wohnte, und wir gingen gemeinsam zum Frühstück. Danach war Unterricht angesagt, der vom Inhalt her auszuhalten war, wenngleich mich die Lehrerin mit jeder Nacht mehr zu hassen schien, was ich mir beim besten Willen nicht nicht erklären konnte. Wenigstens schleppte sie mich nicht mehr zu Lord Lucius. Nach der Mittagspause ging es ab in eine der zahlreichen AGs, die auf dem Programm standen.

Dann endlich war Freizeit, die ich meistens mit Sorchas und mittlerweile auch fast meiner Clique auf dem Burggelände verbrachte.

Meine Familie sah ich ganze zwei Monate nicht. Bis auf die paar Mails jede Woche, in denen ich mehrmals versicherte, dass es mir gut ginge – alle Einzelheiten könnte ich schlecht abtippen –, hatten wir keinen Kontakt mehr. Wegen der unterschiedlichen Tageszeiten war es so, als würde ich auf einem anderen Kontinent leben, einem mit einer Zeitverschiebung von zwölf Stunden. Von daher war es wohl verständlich, dass ich überglücklich ich über unser Wiedersehen war.

Kaum hatte ich mein Zimmer betreten, kam Valerie aus meinem Schrank gelaufen, rief: „Buh!", und sprang in meine Arme.

„Ich vermisse euch so", gestand ich beinahe rührselig.

Valerie, die in der Zwischenzeit meinen Teddy auf dem Bett entdeckt hatte und ihm brühwarm erzählte, was er für Abenteuer verpasst hatte, die ihre Kuscheltiere erlebten, schaute kurz hoch.

Nachdenklich runzelte sie ihre Stirn. „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe dich auch vermisst. Jetzt schreit mich keiner mehr an oder ist zickig zu mir, das ist komisch."

Ach meine kleine Schwester. Oftmals hatte sie mich genervt, wenn sie immer das ausgesprochen hatte, was sie dachte, doch dieses eine Mal liebte ich sie dafür. Ich ging zu ihr hinüber, drückte sie an mich sie und hoffte, dass keinem meine Tränen auffallen würde, die langsam meine Wangen hinunterliefen. Vergeblich. Meine Mutter bemerkte als erste, dass ich weinte. Sie kniete sich zu uns und strich mir über die Haare, wie früher, als ich noch klein war und in Tränen ausgebrochen war, wenn ich mir wehgetan hatte.

My(stery) storyWhere stories live. Discover now