45 - Leo

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Später sitzen wir auf der Veranda. Cassie's Dad hat gesagt, er geht schlafen und vielleicht tut er das heute tatsächlich.
Ich weiß, dass es ihm genauso dreckig geht wie mir. Wir haben beide kaum geschlafen in den letzten zwei Wochen und ich habe verdammt viel mit ihm geredet.

Am Anfang war ich zögerlich, weil ich nicht wusste, wie weit ich dabei gehen soll. Aber ich habe festgestellt, dass er wie seine Tochter ist: gnadenlos ehrlich. Und deshalb war ich das auch. Er hat von dem Unfall gesprochen, wie es ihm seitdem geht und dass er unglaubliche Angst hat, Cassie zu verlieren.

Für einige Tage war es besonders hart.
Wenn ich auf dem Flur saß und sie schreien gehört habe, habe ich meine Hände so fest zu Fäusten geballt, dass sie danach manchmal taub waren und geknackt haben.
Einmal habe ich so hart gegen eine Wand geschlagen, dass ich von einer Schwester zur Ordnung gerufen wurde.

Was interessiert mich diese blöde Wand!
Ich hätte alles getan, um zu ihr zu dürfen. Aber sie wollte mich nicht sehen.
Ich verstehe das. Sie wollte eigentlich nicht mal ihren eigenen Vater sehen.
Vielleicht hat sie diese Zeit gebraucht, um ihre Gedanken zu sortieren.
Vielleicht kann sie dadurch besser verarbeiten, was dieses Schwein ihr angetan hat.

"Du hast trotzdem nicht erzählt, was passiert ist. Wenn er in Haft ist, wie kannst du ihn dann zusammen geschlagen haben?"
Cassie sieht mich fragend an, zieht die Decke um ihre Schulter enger um sich.

Ich seufze. Das wird ihr nicht gefallen.
"Er ist auf Bewährung draußen bis die Verhandlungen anfangen. Er wird von Polizeileuten überwacht. Da stehen immer welche vor seinem Haus und so..."
Cassie zieht die Augenbrauen hoch.

"Alex kennt ein paar von denen aus dem Fitnessstudio oder so. Keine Ahnung. Zumindest ... er hat denen gesagt, dass er dich kennt ... das Mädchen, dem Pete das angetan hat. Und ... sie haben eben kurz nicht hingeschaut, als wir ins Haus sind."

In unserer Stadt ist Selbstjustiz ein ziemliches Ding. Jeder kennt jeden und jeder bildet sich ein Urteil. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Privatpersonen ihre Angelegenheiten in die Hand nehmen und die Polizei die Augen verschließt. Am Ende geht es ja immer um den Cousin der Nichte des Schwiegersohns ... oder so. Was ich damit sagen will ist: manchmal ist der Polizei durch die Rechtssprechung die Hände gebunden. Das heißt aber nicht, dass ihre persönliche Involvierung sie nicht dazu bringt, normabweichende Entscheidungen zu treffen.
Normalerweise finde ich das ätzend, aber jetzt kam es mir sehr gelegen.

Zumindest fanden auch diese Beamten, dass Pete es verdient, auf's Maul zu kriegen.

"Wir sind rein und haben ihn dann im Wohnzimmer gefunden. Als er mich gesehen hat, ist ihm natürlich der Arsch hoch gegangen.
Zum Glück hatte ich Alex dabei. Er hat das ganze beobachtet und mich irgendwann zurück gezerrt, damit ich den Typen nicht kille."

Cassie ist nicht überrascht oder angewidert.
"Wirst du deswegen Probleme kriegen?"
"Nein. Mein Dad ... er hat dafür bezahlt, dass sie das vergessen."
Cassie schnaubt.
"Ich sollte wütend darüber sein. Ich sollte ..."
Sie lässt den Kopf hängen und lacht leise.
"Dieser Wichser hat das verdient. Was auch immer du mit ihm gemacht hast."

Als ich daran zurück denke, breitet sich in mir sowas wie Befriedigung aus.
"Er hat eine Menge gebrochene Knochen, soweit ich das einschätzen kann. Aber er sollte sich daran gewöhnen."
"Wieso das?" Cassie klingt nicht gerade berührt, eher neugierig.
"Er wird nicht in den Jugendknast kommen, weil er schon 18 ist. Er wird mit Kerlen eingesperrt, die zum Teil selbst Töchter haben. Er wird eine Menge aushalten müssen."

Für eine Sekunde fliegt über ihr Gesicht so etwas wie Erschrockenheit, dann ändert sich ihr Blick.
"Lächerlich, dass er mir gerade kurz leid getan hat."
"Es ist nicht lächerlich. Es zeigt, dass du ziemlich einfühlsam bist. Zu einfühlsam für einen wie den."

Wir schweigen für eine Weile, dann:
"Willst du, dass ich es dir erzähle?"
"Was?" Ich verstehe nicht, wovon sie spricht.
"Es habe es noch nicht laut ausgesprochen. Das werde ich aber müssen vor dem Gericht. Vielleicht wäre es gut, ich würde das schon mal üben?"
Sie sieht mich zweifelnd an.
Ich weiß nicht, ob ich das aushalte, aber mit Sicherheit ist es einfacher für sie, wenn sie es einmal aus ihrem eigenem Mund gehört hat, also nicke ich widerwillig.

"Ich muss nicht."
"Doch, musst du. Es ist besser, du sagst es mir jetzt. Sonst könnte es passieren, dass ich während einer Gerichtsverhandlung den Angeklagten umbringe. Das wäre sicher nicht so gut."
Er winziges Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht - das erste, das ich seit Wochen sehe und es ist mir alles wert.


"Das verrückte ist, dass ich denke, du würdest das tatsächlich tun."
"Natürlich würde ich. Ich würde ihn für dich killen."
Cassie schüttelt den Kopf.
"Du Idiot."
Ich sehe sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
"Du glaubst wirklich, das würde mir helfen, oder?"
"Ja." Was ist daran überraschend? Für das, was er getan hat, verdient er es, mit dem Tod bestraft zu werden. Schade, dass das in diesem Land keine Option ist.

"Leo, bist du komplett bescheuert? Du kannst nicht ernsthaft jemandem umbringen!"
"Wieso nicht? Ich würde lieber in den Knast gehen als zuzulassen, dass er dir sowas noch mal antut!"
"Verstehst du denn gar nichts?
Ja, ich will, dass Pete bestraft wird.
Ja, ich würde ihm seine mickrigen Eier eigenständig ausreißen, wenn ich könnte.
Aber ich will nicht, auf gar keinen Fall, dass du so eine Scheiße baust wie er!
Weil du dann nicht besser bist, Leo, wenn du genau da landest, wo er hingehört!
Und weil du, verdammt noch mal, der einzige bist, der mich hält!"

Ihre Stimme wird immer lauter, sie steht auf und positioniert sich vor mir.
"Glaubst du, es hilft mir, Rache zu bekommen, wenn ich dich dafür verliere? Denn das tut es nicht! Und ich ... ich ..."
"Wieso willst du so unbedingt auf mich aufpassen?" flüstere ich fast.

Sie lacht sarkastisch.
"Ach, ich weiß nicht, Leo. Vielleicht weil ich schon zu viele Menschen verloren habe! Vielleicht weil ich es nicht aushalte, mich jemandem anzuvertrauen und denjenigen dann nie wieder zu sehen! Vielleicht liegt es auch daran, dass du mir so wichtig geworden bist oder dass ich dich verdammt noch mal liebe, aber-"

Abrupt schlägt sie sich mit der Hand auf den Mund, als sie bemerkt, was sie da eben gesagt hat. Ihre Augen werden groß, sie steht völlig entwaffnet vor ihr.
Ich, für meinen Teil, ich bin vielleicht gerade an einem Herzinfarkt gestorben.
Zumindest bin ich mir sicher, dass es nicht mehr schlägt.

"Meinst du das ernst?"
Ich stehe auf und gehe einen Schritt auf sie zu, der ausreicht, um mit meiner Brust ihre Schultern zu berühren. Ich kann mich nicht zusammen reißen. Ich lege meine Hände an ihre Wangen und zwinge sie, mich anzusehen.
Ihre Augen sind groß und sehen geschockt, aber völlig ernst aus, als sie nickt.

Sie schluckt hart, dann sagt sie die Worte, die ich noch nie aus dem Mund eines Mädchens gehört habe.
"Ich liebe dich, Leo Johnson."
Auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, das mit Sicherheit so breit ist, dass ich völlig idiotisch aussehe.

"Das trifft sich verdammt gut."
"Ach ja?"
"Ja." Ich lege meine Stirn an ihre. "Denn ich liebe dich."
Sie atmet einmal tief ein und es sieht aus als würde das Leben ihren Körper plötzlich wieder vollständig einnehmen.
"Ich hab gehofft, dass du das sagen würdest."
Ich muss lachen.
"Das ist ziemlich berechnend von dir, Prinzessin."
Cassie zuckt die Schultern. "Hat ja gut funktioniert.

Mein ganzer Körper fühlt sich warm an ... von innen. Ich weiß nicht, wie man sowas beschreiben soll. Es fühlt sich an, als hätte ich endlich etwas bekommen, was ich mir schon lange gewünscht habe. Und so war es ja eigentlich auch.

"Hey, weißt du, was du dir da gerade eingebrockt hast?" frage ich.
Cassie schaut hoch und sieht mir direkt in die Augen.
"Was denn?"
"Mich. Und glaub mir, so schnell wirst du mich nicht wieder los."
"Dito."
Ich ziehe dieses Mädchen, mein Mädchen, an mich und küsse sie bis wir beide keine Luft mehr bekommen.

HATE MEWhere stories live. Discover now