2 - Cassie

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Ich bin weit, weit, weit von nüchtern entfernt.
Selbst der Ausdruck "betrunken" wäre beleidigt, würde ihn jemand verwenden, um mich jetzt zu beschreiben. Ich bin vollkommen besoffen. Ich stoße dauernd mit irgendwem zusammen, kichere ungewöhnlich laut, mal tanze ich wie eine Wahnsinnige, dann sitze ich betrübt in der Ecke. Ich bin so voll wie lange nicht mehr. Oder vielleicht noch nie.

Dabei hätte es nie so eskalieren müssen.
Nach den paar selbst gemachten Mixgetränken habe ich noch zwei runden Bierpong gespielt und dann hätte ich normalerweise aufgehört. Ich kenne mein Limit normalerweise.
Aber genau dann kam der Anruf von meiner Mutter. Der obligatorische "Komm nach Hause, es sieht nicht gut aus" - Anruf, der in regelmäßigen Abständen kommt. Jedes Mal ein Fehlalarm.

Aber wegen meinem verdammten schlechten Gewissen kann ich einfach nicht anders. Ich muss. Das heißt, morgen fahre ich wieder mal nach Hause.

Wenn ich sie da schon so vor mir liegen sehe... ihre kleinen Knochen, die nicht richtig wachsen zu scheinen, ihr schönes Gesicht, ihr glanzloses Haar, das eigentlich zu Zöpfen geflochten durch den Wind fliegen sollte. Ihre Muskeln, die  regelmäßig bewegt werden müssen, weil sie sich nicht selbst bewegen kann.

Bei dem Gedanken greife ich mir die nächstbeste Flasche und kippe sie in mich rein. Lucy ist genauso voll wie ich, sie bemerkt nicht, wie es mir geht. Jess hat sich aus dem Staub gemacht als sie bemerkt hat, dass es einen Pool gibt und Anne unterhält sich angeregt mit irgendeinem Kerl im Treppenhaus. Keine Ahnung, ob sie sich irgendwas eingeworfen hat. So groß wie ihre Pupillen sind, wäre das schon möglich.
Was soll ich als nächstes tun? Nach Hause gehen ist keine Option. Mein zu Hause in dieser Stadt.

Ich verlasse das Haus und betrete den Garten mit dem riesigen Pool, den scheinbar niemand benutzt. Vielleicht liegt das daran, dass der Garten fast leer ist. Wo sind denn alle? Wie spät ist es?
Ach ja, es hat sich herausgestellt, dass das hier das Haus von Leo Johnson ist. Natürlich. Was sonst?
Das ist genau mein Humor.

Ich lege mich mitten auf die Wiese und bewege mich als würde ich einen Schneeengel machen.
All der Schmerz scheint mich zu überwältigen. Aus den Anlagen, die hier draußen aufgestellt sind, dröhnt Weak von AJR.
Mir fallen spontan 800 Sachen ein, die schlecht daran sind, schwach zu sein. Ich will nicht schwach sein. Aber ich liege hier und kann mich kaum bewegen, weil die Erinnerungen mich überwältigen.
Manchmal hilft Alkohol gegen dieses Gefühl. Aber eben leider nur manchmal. Heute nicht.
Ich spüre, wie ich an Händen und Füßen angehoben werde.

"Handy. Tasche." rufe ich und spüre, wie mir jemand die Tasche abnimmt. Mich nach anderen wichtigen Gegenständen abtastet. Dann werde ich einige Male hin- und hergewogen bevor mich irgendwer in den Pool wirft. Ich wehre mich nicht. Ich strample nicht rum. Ich lasse mich in das Wasser sinken, höre, wie die Geräusche um mich herum zu sanftem Rauschen verblassen. Ich lehne mich zurück, schiebe meine Füße unter irgendeine Ecke. Ist da eine Treppe im Pool? Ich weiß nicht.

Ich weiß nur, dass ich nicht auftauchen will. Nie wieder. Ich will nicht die glückliche positive Party-Cassie sein. Ich will mir Lucy's Doppel-Moral nicht mehr antun. Ich will nicht in dieses Haus zurückkehren, dass schon lange nicht mehr mein zu Hause ist. Ich will meine Mutter nicht sehen. Ich will sie nicht sehen.
Ich will einfach nur, dass alles aufhört.
Ich will, dass ich aufhöre.
Wenn ich nicht auftauche ... wenn ich einfach nicht auftauche ...
Die Lichter der Party fallen in das Wasser und ich sehe am Boden des Pools mehrere Gegenstände, die hier nicht hingehören.
Ich beobachte, wie kleine Blasen an die Oberfläche steigen als die Luft meinen Körper verlässt.
Alles ist egal.
Ich bin ein Sauerstoffbläschen, das an die Oberfläche schwebt, ohne meinen Platz an der kleinen Treppe zu verlassen.
Es ist schon in Ordnung.
Alles wird gut.

HATE MEWhere stories live. Discover now