43 - Cassie

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Als ich neun Jahre alt war, dachte ich, ich könnte in den Himmel klettern.
Eines Tages, als ich aus der Schule kam, kletterte ich auf einen Baum - so hoch ich konnte. Der Baum in unserem Vorgarten, an dem jetzt eine Schaukel hängt, war verdammt hoch. Aus heutiger Sicht: nicht der richtige Baum für einen Kletter-Einsteiger wie mich.
Aber damals sah ich das anders.

Das Ende der Geschichte war, dass ich herunterfiel und mir den Arm brach.
Ich erinnere mich noch an das knackende Geräusch und wusste nicht, ob es die brechenden Äste oder meine brechenden Knochen waren.

Dieser Schmerz von damals ist keineswegs zu vergleichen mit dem, was ich fühle, als ich die Augen öffne.
Um mich herum piept es. In meinem Arm steckt ein Tropfer. Mein Kopf explodiert fast, weil er sich nicht entscheiden kann, was am meisten wehtut.

Trotz allem ist mein erster Gedanke: Ich bin in einem Krankenhaus. Ich hasse Krankenhäuser.
"Sie wacht auf" ruft jemand und ich würde ihm oder ihr gerne ins Gesicht schlagen, weil das Geräusch der Stimme mir fast das Gehirn zu zerschneiden scheint.

Einige Leute kommen herein gestürmt. Ich will nicht sehen, wer es ist.
Einer positioniert sich direkt neben mir.
"Hi, mein Name ist Dr. Howard. Ich habe dich operiert. Erinnerst du dich, was passiert ist?"
Tue ich das?

Wir waren auf einer Party. Wir haben Beer Ping gespielt. Ich wollte was zu trinken holen. Dann ... nichts mehr.
Der Versuch den Kopf zu schütteln scheitert kläglich, aber ich traue meiner Stimme nicht also mache ich ein anlehnendes Mh-Mh-Geräusch.

"In Ordnung." Er schriebt irgendwas auf sein Klemmbrett. Vermutlich Patienten hat ihr Gedächtnis verloren, hoffnungsloser Fall.
"Wie geht es dir alles in allem? Wir geben dir starke Schmerzmittel."
"Davon merke ich nichts."
Aha, sie ist also noch da, meine Stimme.

Dr. Howard nickt nachdenklich.
"Ich muss dich warnen. Die Erinnerungen werden bald zurück kommen. Bereite dich darauf vor. Wir geben dir weiterhin Schmerzmittel. Sag, wenn du etwas brauchst."
"Wieso sagen Sie mir nicht, was passiert ist?"
"Es ist besser für deine Psyche, wenn du dich selbst erinnerst."

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und bereue es.
Was zur Hölle ist hier los?
Ich kann nicht sagen, was weh tut. Alles.
Besonders mein Oberkörper und mein Kopf.
Was ist passiert?

"Willst du irgendwen sehen? Wir überlassen das mit den Besuchern dir. Du sagst und wer wann hier sein darf, okay?"
Das klingt seltsam. Als würden sie befürchten, dass ansonsten jemand hier auftauchen würde, der mir Schäden will. Wer könnte das sein?

"Dein Dad und dein Freund warten draußen."
Er legt mir eine Hand auf die Schulter und in mir reißt irgendein Faden.
Ich fange an, unkontrolliert zu schreien.

Das war es dann wohl mit den Besuchern.

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Ich löffle Jogurt und starre die Wand an.
Fernsehen ertrage ich nicht. Zu viele Bilder, zu viel Licht, zu viel Farbe.
Die weiße Wand ist kalt und emotionslos - anders als Mia's. Ich muss an Leo denken und was er Mia erzählt hat.
Ich vermisse Leo unbeschreiblich doll.
Aber ich weiß nicht, ob ich ihn sehen will, weil ich vergessen habe, was passiert ist.
Vielleicht hat er ja damit zu tun?
Ich kann mir das nicht vorstellen, weil ... naja, er würde nichts tun, das mir schadet.
Und ich bin offenbar sehr stark beschädigt.

Dr. Howard hat mir Jogurt verschrieben, um meinen Hals beruhigen, der ziemlich angestrengt ist, nachdem ich besagten Doktor volle fünfzehn Minuten angeschrien habe.
Ich kann nicht sagen, warum.
Es war ein Instinkt, nicht mehr.

Nachdem ich mit dem Jogurt fertig bin, lege ich mich wieder hin und schlafe. Ich könnte ewig schlafen.
Obwohl ich erst den zweiten Tag im Krankenhaus bin, ist es komisch, hier allein zu sein.
Ich weiß nicht, wen ich zu mir lassen soll.
Mein Dad dürfte eigentlich kein Problem sein. Oder?

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"Komm doch mal kurz mit hoch, ja?"
"Pete, ich sollte lieber-"
Klatsch.
"Bitte. Bitte, tu das nicht, Pete."
"Bitte."
"Ich habe doch gesagt, ihr würdet es bereuen."
"Die Vorstellung, Cassie mit einem anderen zu sehen-"
"Sieh mal, da ist dein Freund. Aber er kommt zu spät."
"Es wird alles wieder gut, Cassie. Ich bin hier. Ich bin bei dir."

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Es bräuchte eine Menge Jogurt, meine Stimme wieder in den Griff zu bekommen.
Mehr als sie vorrätig haben.
Ich schreie so lange und so laut, dass sie mir Beruhigungsmittel geben.

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Als ich wieder aufwache, erkläre ich dem Arzt, dass es keine gute Idee ist, einem Mädchen, das auf Vergewaltigungsdrogen misshandelt wurde, Beruhigungsmittel zu verabreichen.
Das Gefühl, das sich einstellt, bevor man einschläft, ist dasselbe wie im GBH.
Er verspricht, es nicht mehr anzuwenden und ich verspreche, nicht mehr so laut zu schreien.

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Am vierten Tag bin ich in der Lage, meinen Dad zu sehen. Er kommt in mein Zimmer und bricht in Tränen aus.
Er darf mich nicht berühren, was ich deutlich schwer fällt.
Wir beide reden mindestens zwei Stunden über alles mögliche, bevor er wieder geht.

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In den nächsten Tagen denke ich über vieles nach.
Den Unfall, meine Schwester, Leo, meine Zukunft, Pete, was er mir angetan hat.
Pete hat mich nicht vergewaltigt.
Er hat mich wehrlos gemacht und zusammen geschlagen.
Er ist kein echter Mensch.

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Vor meinem Fenster geht die Sonne auf und unter. Der Sommer verschwindet langsam und mit ihm meine sichere Blase der Zerstreuung.
Mein Vater hat mir die Zulassungspapiere einiger Unis gebracht.
Eine davon werde ich mir aussuchen.

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Als ich zwei Wochen nach der Party aus dem Krankenhaus entlassen werde, scheint die Sonne mir ins Gesicht als wäre nie etwas gewesen. Als wäre meine Welt nicht zerbrochen.
Mittlerweile ist es Anfang September, aber heute scheint das Wetter sich dazu entschlossen zu haben, mich auszulachen.

Meine Mom hat mich nicht besucht. Sie sei beschäftigt, sagt sie. Sie müsse nach Mia sehen.
Dad hat ihr erzählt, dass ich angegriffen wurde, nicht, was genau passiert ist.
Sie wäre trotzdem nicht hier aufgeschlagen - egal, was.

"Komm schon, Liebes."
Mein Vater hält mir die Tür des Autos auf und ich steige ein.
Wir beide machen uns auf den Weg nach Hause, wo mich die altbekannte Hölle erwartet.
Aber nicht nur das. Auf den Stufen der Veranda sitzt Leo.

Mir bleibt die Luft weg.
Ohne darüber nachzudenken, steige ich aus dem Wagen. Meine Beine bewegen sich von ganz allein, meine Haare wehen im Wind.
Ich renne auf die Veranda zu und stürze mich auf Leo, der gerade noch rechtzeitig aufsteht, um mich aufzufangen.
"Sie will nicht-" ruft mein Vater noch. "...angefasst werden." Der zweite Teil des Satzes wird vom Wind fort getragen.

Ich atme den Geruch seines Pullovers ein, genieße, dass mein Kopf perfekt an seinen Hals passt, küsse die Stelle, an der ich den Puls spüre. Er legt seine Arme um mich - so sanft als wäre ich aus Papier. Ich schlinge meine dafür nur umso stärker um ihn.

Allein seine Anwesenheit lässt mich für einige Sekunden vergessen, was passiert ist.
Doch dann bemerke ich die Platzwunde in seinem Gesicht.

HATE MEWhere stories live. Discover now