Kapitel 16

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Mit einem breiten Grinsen wurde ich am nächsten Vormittag wach. Ich hatte die Nacht gut geschlafen und fühlte mich fit. Als ich in die Küche ging, war es schon fast Zeit für Mittag. Meine Eltern wussten, dass ich am Wochenende gern mal länger schlief und deshalb weckten sie mich nicht. »Guten Morgen«, sagte ich und strahlte meine Eltern an. »Da hat aber jemand gute Laune«, erwiderte mein Papa und trank einen Schluck Kaffee. »Morgen ist ja auch Weihnachten. Wie könnte man da schlechte Laune haben?«, flötete ich munter und half meiner Mama beim Tisch decken. Eine Weile war es still in der Küche, nur das Klappern des Geschirrs war zu hören.

»Sag mal, wir haben nun gar kein Geschenk für Frau Lindberger«, fing meine Mama das Gespräch an. »Es war ja doch eine sehr spontane Entscheidung.« Ich überlegte. Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Was schenkte man seiner Lehrerin zu Weihnachten, in die man verliebt war? Ich wollte kein Aufsehen erregen, denn schließlich feierten wir mit meinen Eltern zusammen. »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Aber ich glaube, dass das auch gar nicht schlimm ist. Sie ist sicherlich ganz froh, dass sie mit uns feiern kann und wird für uns auch nichts haben.« Meine Mama nickte zustimmend. »Das stimmt. Das schönste Geschenk, was man sich eben machen kann, ist doch die Zeit, die man miteinander verbringen darf.« 

Nach dem Essen ging ich wieder zurück in mein Zimmer und schnappte mir mein Handy. Ich öffnete WhatsApp und schrieb Lotta eine Nachricht. 

»Hi Lotta! Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Ich wollte nur kurz noch etwas mit dir klären... Wir schenken uns gegenseitig nichts, oder? Ich konnte nichts mehr besorgen und es wäre irgendwie komisch, weil meine Eltern auch dabei sind. Ich freue mich schon sehr auf morgen Abend.« Die Antwort kam kurze Zeit später.

»Nein, ich verstehe schon. Keine Geschenke! :-) Ich freue mich auch.« Ein Lächeln machte sich in meinem Gesicht breit. Wie hatte sie mir nur so den Kopf verdreht? Eine ganze Weile schaute ich mir noch ihr Bild an, was für heftiges Herzklopfen sorgte. 

Den Nachmittag verbrachte ich mit meiner Familie im Wohnzimmer. Wir schauten uns Filme an und tranken Tee. Abends legte ich mich glücklich und voller Aufregung ins Bett. Ich konnte den nächsten Tag kaum abwarten und malte mir die unterschiedlichsten Szenarien aus. Mein Kater schlich zu mir ins Bett, eine Weile kraulte ich ihn noch und dann schliefen wir beide ein.

Laute Weihnachtsmusik drang bis in mein Zimmer. Ich öffnete die Augen und hörte meine Eltern lachen. Auf Zehenspitzen schlich ich bis zum Treppenabsatz und konnte einen Blick in die Küche werfen. Sie standen dort, bereiteten das Essen für heute Abend vor und sahen einfach nur glücklich aus. Ich zog mich um und half ihnen dabei. Als alles fertig war, schlüpfte ich unter die Dusche und ließ mir doppelt so viel Zeit wie üblich. Vor dem Kleiderschrank entschied ich mich für eine dunkle rote Hose und einen schwarzen Pullover. Zwar hatte ich von Natur aus glatte Haare, doch trotzdem glättete ich sie über. Nach dem Waschen waren sie nämlich immer etwas widerspenstig. Dann schnappte ich mir mein Parfüm von Tommy Hilfiger und tat mir zwei-drei Spritzer auf die Haut. 

Lotta würde erst zum Abendessen um 18:00 Uhr kommen. Die Aufregung machte sich erneut in meinem Körper breit und ich konnte nichts dagegen tun. Endlich war es so weit. Die Bescherung hatten wir bereits am Nachmittag gemacht und nun deckte ich den Tisch. Jeden Moment würde sie da sein. Was sie wohl angezogen hatte? In diesem Moment klingelte es an der Tür und ich lief los. An der Tür angekommen, atmete ich nochmal tief durch und öffnete sie dann. Dort stand sie. Direkt vor meinen Augen. Ich sah über meine Schultern, aber meine Eltern waren anscheinend in der Küche geblieben. »Komm doch rein«, meinte ich und sie betrat den Flur. Sie blickte sich neugierig um. Ich nahm ihr die Jacke ab und musterte sie heimlich. Sie trug ebenfalls einen schwarzen Pullover und dazu einen braunen Rock; sie sah wirklich toll aus. Etwas unbeholfen standen wir uns gegenüber, bis meine Eltern kamen und sie begrüßten. Lotta zog eine Flasche Wein aus ihrer Tasche, grinste etwas verlegen und meinte: »Die habe ich uns mitgebracht.« Und dann war das Eis gebrochen. Wir aßen zusammen Abendbrot und man hatte nicht das Gefühl, dass meine Lehrerin zu Besuch war, sondern eine gute Bekannte. Ich weiß nicht, wer später auf die Idee kam, aber plötzlich schauten wir uns alte Kinderfotos von mir an und meine Eltern packten die peinlichsten Geschichten meiner Kindheit aus. Lotta zeigte echtes Interesse und lachte herzhaft über viele Dinge. 

Nachdem die Flasche Wein leer war, öffnete meine Mama noch eine zweite, aber Lotta lehnte dankend ab. »Ich muss leider noch fahren«, erklärte sie. Meine Eltern und ich tranken auch noch die zweite Flasche und dieses warme Gefühl, was man spürte, wenn man Alkohol trank, breitete sich aus. Dann räumten meine Eltern so langsam die Küche auf und meine Mutter schlug vor, dass ich Lotta das Haus zeigen sollte. Mein Zimmer zeigte ich ihr zum Schluss. »Ja, also hier lebe ich«, verkündete ich. »Schön hast du es«, antworte sie und sah sich um. Ich bedankte mich. »Deine Eltern sind wirklich ausgesprochen nett und gastfreundlich. Ich habe mich richtig wohl gefühlt.« Ich schaute sie an. Sie sah einfach nur perfekt aus und alles in mir schrie nach einem Kuss. Sollte ich es wagen? Etwas nervös fummelte ich an meinem Pullover und senkte den Blick. In ihrer Nähe war ich unfassbar nervös, was mich selbst ziemlich nervte. Sie schien es zu bemerken, denn sie nahm meine Hände in ihre und lächelte mich an. »Ich hab da noch was für dich. Ich weiß, wir wollten uns nichts schenken, aber ich konnte nicht anders.« Sie ließ meine Hände los und holte aus ihrer Tasche ein kleines Päckchen heraus. Es war so winzig, dass ich es fast mit einer Hand umschließen konnte. Etwas hilflos und verlegen sah ich sie an. »Los, öffne es«, forderte sie mich auf und langsam packte ich es aus. Es war eine kleine Schachtel. Ich nahm den Deckel ab und traute meinen Augen nicht. Sie hatte mir eine Kette geschenkt. An der Kette waren zwei kleine silberne Herzen befestigt, die ineinander verschlungen waren. Ich starrte die Kette an. »Gefällt sie dir?«, fragte Lotta vorsichtig und erst dann fiel mir auf, dass ich für einen Moment die Luft angehalten hatte. »Ja, sehr«, keuchte ich und Lotta nahm sie mir aus der Hand, um sie mir umzubinden. Sie drehte mich um, sodass ich mit dem Rücken zu ihr stand. Ich spürte ihren warmen Atem in meinem Nacken und meine Knie wurden weich. »Die Kette hat mir meine Oma geschenkt, als sie noch lebte. Mein Opa hat sie von seinem ersten Lohn damals gekauft und sie ihr geschenkt. Sie gingen in die gleiche Klasse und wurden sehr früh ein Paar. Viele Jahre waren sie verheiratet, aber dann starb mein Opa und kurze Zeit später ging sie ihm nach.« Sie seufzte, aber sprach dann weiter: »Meine Oma sagte mir, ich soll sie der richtigen Person schenken, wenn ich mir ganz sicher bin.« Lotta hatte mir mittlerweile die Kette umgelegt und nun drehte sie mich langsam wieder zu sich um. Wir schauten uns tief in die Augen, keiner sagte ein Wort. Die Stille war keineswegs unangenehm zwischen uns. Ich genoss sie richtig. »Und weißt du, das bin ich mir mit dir.« Ihre Worte trafen mich mitten ins Herz. Ich wusste, dass wir viele Steine im Weg liegen hatten, aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich wollte sie küssen und nie wieder damit aufhören. Unsere Lippen näherten sich und bevor wir uns küssten, antwortete ich: »Ich bin mir auch sicher mit dir. Mehr als das.« Dann waren wir eins, so fühlte es sich jedenfalls an. Eine ganze Weile standen wir eng umschlungen in meinem Zimmer, bis wir uns langsam voneinander lösten. »Danke, das war das schönste Geschenk, was ich mir hätte wünschen können.« Ein letzter Kuss war ihre Antwort, dann gingen wir zurück zu meinen Eltern. Es war spät geworden und Lotta verabschiedete sich. »Ich muss mich wirklich bedanken, es war ein wunderbarer Abend«, sagte sie und reichte meinen Eltern die Hand. Meine Mama aber schloss sie in ihre Arme und Lotta grinste. Papa war eher zurückhaltend und nahm nur ihre Hand, aber lächelte sie an und sagte: »Das finden wir auch. Es war schön, dass Sie... ähm... du da warst.« Wir brachten sie bis zur Haustür. Dann drehte sie sich nochmal zu mir um und sagte: »Wir sehen uns.« Ich nickte ihr nur zu. Sie fehlte mir jetzt schon sehr, obwohl sie noch gar nicht weg war. Dann stieg sie ins Auto und fuhr los. Ein letzter Blick die Straße entlang und sie bog rechts ab und war verschwunden. Meine Eltern gingen wieder zurück ins Haus, aber ich blieb noch einen Moment vor der Tür stehen und die kalte Luft tat mir gut. Komischerweise musste ich genau jetzt an ein Zitat denken. Wie sagte Sebastian Fitzek in seinem Buch »Der Augenjäger« doch gleich noch? »Es sind nicht die Augen, mit denen wir die Welt erkennen. Es sind unsere Gefühle, die uns sehen lassen.« Wie wahr dieser Spruch doch war, dachte ich und schloss mit einem Lächeln die Haustür.

Unknown. || gxgWhere stories live. Discover now