Kapitel 3

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»Elli, steh jetzt endlich auf!«, brüllte meine Mama und stürmte in mein Zimmer. Verschlafen blinzelte ich sie an und verstand ihren Aufruhr nicht. »Was ist denn los?«, nuschelte ich und kniff die Augen zusammen, als sie mein Rollo einfuhr und die Sonnenstrahlen den ganzen Raum durchfluteten. »Du bist ziemlich spät dran. Also los jetzt!« Ich schnappte mir mein Handy. 06:45 Uhr. In 45 Minuten fing der Unterricht an. Mist. Ich sprang aus meinem Bett und suchte mir meine Klamotten zusammen. Bevor meine Mama das Zimmer verließ, blieb sie noch kurz stehen und schüttelte für einen Moment den Kopf und ich sah, dass ein Lächeln ihre Lippen umspielte. »Bis später, ich muss los zur Arbeit.« Ich rief ihr noch nach, dass sie nicht allzu gemein zu den Patienten sein sollte und dann fiel die Tür ins Schloss. Sie führte eine kleine Zahnarztpraxis zwei Straßen weiter und das war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich keine Angst vor dem Zahnarzt hatte. Er war praktisch ein Teil von mir und eigentlich war ich darüber sehr froh, weil meine Zähne einwandfrei waren.

Um 07:24 Uhr kam ich in der Schule an. Ich war etwas außer Atem und stürzte gerade noch pünktlich ins Klassenzimmer. »Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Kati mich skeptisch. »Was soll mit mir passiert sein?«, erwiderte ich. Sie zog eine Augenbraue hoch, angelte aus ihrer Tasche einen kleinen Spiegel und hielt ihn mir vor mein Gesicht. Das wurde ja immer schöner, dachte ich. Mein ganzes Gesicht war rot gefleckt und meine Haare waren etwas zerzaust. Ich wollte gerade antworten, da unterbrach das Klingeln unser Gespräch und Frau Lindberger betrat den Raum. Ihr Blick glitt durch die Reihen und blieb an mir hängen. Sie grinste mich an. Peinlich, dachte ich. Schnell richtete ich meine Haare und sie drehte sich weg, um das Klassenbuch zu öffnen. »Wir machen jetzt die Anwesenheit, dann kann ich mir gleich eure Namen einprägen«, meinte sie und las den ersten Namen motiviert vor. »Julia Behrendt?« Ein Mädchen aus der hinteren Reihe machte sich bemerkbar. Nach einiger Zeit kam sie bei mir an. »Elli Nowak?« Ihr Blick wanderte sofort in meine Richtung und sie nickte leicht. Ich war etwas verwundert, dass sie wusste, wer ich war, aber machte mir keine weiteren Gedanken darüber. Als sie fertig war, besprachen wir den Verlauf des Jahres. Es waren noch einige Monate bis zur Prüfung, aber die Zeit würde rasend schnell vergehen. Da war ich mir sicher. Ich wollte jeden Moment genießen.

Als die letzte Stunde vorbei war, fuhr ich nach Hause. Meine Freunde wollten wieder zum See fahren, aber ich war zu erledigt. Ich wollte einfach nur schlafen, obwohl das Wetter dafür eigentlich viel zu schön war. Völlig in Gedanken raste ich die Straße entlang und bremste ab, um durch den Eingang unseres Stadtparks zu fahren. Ich liebte diesen Park. Als Kind war ich oft hier auf dem Spielplatz gewesen und heute verbrachte ich immer noch gern Zeit hier. Der Park war groß und eingezäunt, aber den Zaun sah man im Sommer eigentlich kaum, denn es wuchsen verschiedene Pflanzen drumherum. Überall standen Bänke, auf denen man gut verweilen konnte und es gab sogar einen kleinen See. Er war nicht zum Schwimmen geeignet, aber Enten konnte man dort super füttern. Es war also die perfekte Beschäftigung für einen Sonntagsspaziergang.

Normalerweise stieg ich vorher immer ab und schob mein Fahrrad durch den Torbogen, weil man nicht wirklich sah, ob etwas oder jemand von vorn kam, aber heute hatte ich es eilig und verschwendete daran keinen weiteren Gedanken. Das war ein fataler Fehler. Ich fuhr zwar nicht schnell hindurch, doch plötzlich krachte ich mit einem Fußgänger zusammen. »Oh, was zum Teufel...?!«, schrie jemand auf. Als ich sah, wer es war, rutschte mir mein Herz in die Hose. Ich ließ mein Fahrrad ins Gras fallen und half ihr hoch. »Frau Lindberger, es tut mir leid. Ich... also... das war keine Absicht«, stotterte ich verlegen. Was war das nur für ein verrückter Tag? Sie sah zu mir hoch und runzelte die Stirn. »Ganz schön stürmisch unterwegs, was?« Ich konnte ihren Tonfall nicht einordnen und fragte sie deshalb, ob es ihr gut ging. »Alles bestens«, meinte sie und langsam gingen ihre Mundwinkel nach oben. Erleichtert atmete ich aus. »Dafür bist du mir aber einen Gefallen schuldig«, sagte sie und überlegte. Super, dachte ich. Jetzt durfte ich wahrscheinlich das restliche Jahr die Tafel wischen. Das konnte ja lustig werden. »Ich bin gerade an diesem Eisstand vorbei gelaufen«, fing sie an und zeigte mit ihrer Hand in die Richtung, in die ich fahren wollte. »Wir gehen beide dort ein Eis essen. Dann sind wir quitt.« Wollte sie mich gerade auf den Arm nehmen? Irritiert starrte ich sie an. Sie merkte das und fügte schnell hinzu: »Natürlich nur, wenn du möchtest. Ich will dich nicht zwingen.« Warum eigentlich nicht? »Nein, ist schon in Ordnung. Es ist nur etwas merkwürdig, dass Sie mich das fragen. Die anderen Lehrer sind da sehr zurückhaltend... Und auch ein paar Jahre älter. Vielleicht liegt es daran.« Sie zuckte mit der Schulter. »Wahrscheinlich. Ich finde es nur ganz schön, wenn ich meine Schüler kennenlernen kann.« Dann schnappte ich mir mein Fahrrad und wir gingen los.

»Eine Kugel Wassermelone und eine Kugel Drachenfrucht«, bestellte ich und bedankte mich, als der Verkäufer mir das Eis reichte. Ich wollte ihm mein Geld geben, aber Frau Lindberger winkte ab und zwinkerte mich an. »Ich mach das. Keine Widerrede.« Ich konnte nicht widersprechen, denn schon legte sie ihm das Geld hin. Wunderbar. Ich fuhr sie an und sie lud mich auf ein Eis ein. Sie bestellte ebenfalls eine Kugel Wassermelone und dazu eine Kugel Mango. Wir setzten uns auf eine Bank in der Nähe und sprachen über die Schule, über die Lehrer, über die Klasse und über die Stadt, aber nicht über private Dinge. Als wir fertig mit unserem Eis waren, verabschiedeten wir uns. »Bis Freitag«, sagte ich und sie sah mich verdutzt an. »Freitag?«, fragte sie erstaunt. »Ähm, ja? Morgen haben wir keinen Unterricht zusammen«, erklärte ich ihr. Sie überlegte kurz und stimmte mir dann nickend zu. »Ja, dann sehen wir uns am Freitag. Bis dann, Elli.« Dann drehte sie sich um und ging in Richtung Ausgang. Ich blieb noch kurz stehen und sah ihr nach, aber sie drehte sich nicht mehr um.

Als ich endlich zu Hause ankam, war es für Mittagsschlaf zu spät. Ich kroch mit einer Decke in mein Bett und sah mir einen Film an. Danach aßen wir wie jeden Tag zusammen Abendbrot - meine Eltern bestanden darauf, denn es war fast die einzige Zeit, die wir miteinander verbrachten. Wir tauschten uns über den Tag aus. Mama erzählte von einem kleinen Mädchen, welches ganz tapfer war, als bei ihr gebohrt werden musste. Papa erzählte nie allzu viel von der Arbeit. Er war Kinderpsychologe und wollte zu Hause abschalten. Ich erzählte, dass wir heute die erste Stunde mit der neuen Lehrerin hatten, von dem Aufeinandertreffen im Park verlor ich jedoch kein Wort.

Nachdem ich den Tisch abgeräumt hatte, lief ich eilig in mein Zimmer und loggte mich bei »Polarus« ein. Lotta war offline. Das sagte mir der rote Punkt neben ihrem Namen. Hatte ich sie verpasst? Nein, es war noch viel zu früh. Ich beschloss, dass ich den Laptop auf jeden Fall geöffnet lassen würde, machte mich aber an meine Hausaufgaben in Physik. Sie raubten mir etwas die Nerven. Ich war ziemlich gut in der Schule, wie mein Notendurchschnitt von 1,3 zeigte. Die letzten zwei Jahre hatte ich dafür aber auch wirklich viel Zeit investiert. Dieses Jahr wollte ich noch mehr Gas geben, um noch besser zu werden oder um den Durchschnitt auf jeden Fall zu halten. Sprachen lagen mir sehr am Herzen, dafür musste ich in Physik und Mathe ein wenig mehr tun. Ich schrieb gerade eine letzte Formel, da ploppte eine Nachricht von Lotta auf.

Lotta: Ich bin erst jetzt nach Hause gekommen. Sorry! Ich hoffe, du hast nicht zu lange gewartet. Wie war dein Tag?

Ich wollte gerade schreiben, dass ich in der Zwischenzeit meine Hausaufgaben erledigt hatte, da fiel mir wieder ein, dass sie gar nicht wusste, dass ich noch Schülerin war. Verdammt. Ich musste wirklich aufpassen.

Pocahontas: Nein, alles gut. Ich bin auch noch nicht allzu lange online. Mein Tag war etwas chaotisch, aber wurde dann doch noch ganz schön. Bin jetzt zwar ein wenig müde, aber freue mich, dass du da bist. Und deiner?

Ihr Tag war in Ordnung gewesen. Ich raffte meinen ganzen Mut zusammen und wollte sie nach ihrer Telefonnummer fragen, doch »Polarus« weigerte sich. Immer wieder kam die Meldung: »Diese Funktion ist nicht verfügbar. Bitte lies die Regeln.« - Gott, das war ja wirklich schwierig. Wir lebten im 21. Jahrhundert und ich konnte sie nicht nach ihrer Nummer fragen. Verrückt. Lotta und ich tauschten uns wieder über viele verschiedene Dinge aus und ich merkte, wie meine Augenlider immer schwerer wurden. Als sie einige Minuten nicht antwortete, schloss ich kurz die Augen. Dieses »kurz« wurde relativ lang, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war es mitten in der Nacht. Mein Laptop surrte leise und neben ihrem Namen wurde mir ein roter Punkt angezeigt. Sie hatte mir noch eine letzte Nachricht geschrieben.

Lotta: Ich gehe davon aus, dass du eingeschlafen bist. Die Müdigkeit holt mich auch gerade ein, deshalb werde ich jetzt auch offline gehen. Gute Nacht. Wir lesen uns hoffentlich morgen Abend wieder.

Ich tippte noch eine Entschuldigung ein, dann klappte ich den Laptop zu und ließ mich ins Bett fallen. Kopfschmerzen machten mir das Denken schwer, aber zum allerersten Mal in meinem Leben fragte ich mich, ob ich mich auch in Frauen verlieben konnte. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht und mich bisher nur wenig für Jungs interessiert. Wie ich darauf kam, wusste ich auch am nächsten Tag nicht mehr, aber ich glaube, die Antwort auf die Frage war: »Ja, schon möglich.«

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