Kapitel 13

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Eine Woche später...

Frau Lindberger war krank. Jedenfalls teilte uns dies der Koordinator mit, der für den Vertretungsplan verantwortlich war. Sie fiel für den Rest der Woche aus. Ich verstand es nicht, denn ich konnte nicht glauben, dass sie wirklich krank war. Die ganze Woche bekam ich sie nicht zu Gesicht und das machte mich wahnsinnig. Ich kam nicht mit Lotta voran, was mich nervlich fertig machte und ich hatte keine Gelegenheit gehabt, das Gespräch mit Frau Lindberger zu suchen und auszuwerten. Wenigstens hatte ich jetzt Ferien. Ich schlenderte über den Schulflur und in meiner Brust breitete sich etwas aus, was sich zu einem verzweifelten Lachen entwickelte. Die anderen Schüler sahen mich entsetzt an, aber das war mir egal. Warum war mir in letzter Zeit nur alles so egal? Noch vor einigen Monaten war es mir wichtig gewesen, was andere Menschen von mir dachten.

»Charlotta, wie geht es Ihnen?« Ich blieb stehen. Mein Atem stockte. Hatte ich gerade richtig gehört? Seit wann gab es hier an der Schule eine Charlotta? Ich musste sofort an Lotta denken. »Danke, mir geht es wieder besser. Ich muss nur noch etwas aus meinem Fach holen und ein Schreiben unterzeichnen. Das muss dann auch bitte unbedingt heute noch mit der Post raus«, hörte ich eine weibliche Stimme aus dem Sekretariat. Ich kannte diese Stimme nur zu gut. Es war Frau Lindberger. Sie hieß Charlotta? Ich beschloss, dass ich hier auf sie warten würde. Kurze Zeit später verließ sie auch schon den Raum und prallte fast mit mir zusammen. Ihre Augen weiteten sich. Wir standen uns einen Moment schweigend gegenüber, bis ich es nicht mehr aushielt. »Wir müssen reden.« Sie sah nicht gut aus, was mir leid tat, aber ich musste es mit ihr klären. Ihr Kopf wanderte von links nach rechts. »Nicht hier«, murmelte sie und zog mich wieder mit in den Vorbereitungsraum der Lehrer. Warum war hier eigentlich nie jemand? »Hier arbeitet kaum jemand. Ich bin gern hier, weil ich Ruhe brauche beim Arbeiten.« Wir setzten uns auf die Couch. Sie erschien mir noch abgenutzter als beim letzten Mal.

»Warum haben Sie ein Problem mit mir?«, fragte ich vorsichtig. Ihre Schulter hob sich. Sie atmete ein. Falten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab. »Ich habe kein Problem mit dir.« Das verwirrte mich. »Sie haben mir das aber gesagt...«, fing ich an, aber sie schüttelte wild den Kopf, was mich zum Schweigen brachte. »Ich habe kein Problem mit dir«, wiederholte sie langsam. »Ich habe eins ohne dich.« Was wollte sie mir sagen? »Ich verstehe es nicht. Was soll das heißen?«, fragte ich sie. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. Ganz zärtlich. Man sollte meinen, ich hatte mich daran gewöhnt, weil sie es schon einige Male getan hatte, aber so war es nicht. Ganz und gar nicht. Jedes Mal verlieh es mir ein wunderbares Gefühl, welches ich nicht beschreiben konnte. »Es tut mir leid, Pocahontas. Ich wollte das alles nicht.« Ich erstarrte. Was hatte sie gesagt? Hatte sie mich gerade Pocahontas genannt? Ich verlor den Halt und plötzlich wurde alles schwarz.

Verwirrt öffnete ich die Augen. Ich lag auf einer Couch. Auf der Couch im Vorbereitungsraum der Lehrer. Was tat ich hier? Ich blinzelte. »Du warst bewusstlos«, meinte Frau Lindberger leise und strich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Ich setzte mich auf und sie hielt mir ein Glas Wasser entgegen. »Trink, das wird helfen.« Es half tatsächlich ein wenig. Ich konnte wieder denken. In meinem Kopf ratterte es. »Sie haben mich gerade Pocahontas genannt«, flüsterte ich und beobachtete ihre Mimik und Gestik. Es war ihr sichtlich unangenehm. »Ja«, brachte sie hervor. »Ich habe Ihnen nie erzählt, dass ich mich dort so genannt habe.« Stille. »Ich weiß.« Sie rieb sich die Augen. Das nahm sie anscheinend ziemlich mit. »Erklären Sie es mir. Bitte. Ich habe genug von dieser Ungewissheit. Ich tappe die ganze Zeit im Dunkeln umher. Es geht nicht mehr. Ich halte das nicht aus und Sie wissen doch irgendetwas«, flehte ich sie an. »Es tut mir so schrecklich leid. Ich bin Lotta.« Ich konnte mich nicht bewegen. Frau Lindberger war Lotta? Das war doch unmöglich, oder? »Das kann doch nicht sein«, redete ich mir selbst ein. »Ich wusste nicht, wer du bist. Als ich zu unserem Treffen ging, habe ich dich dort stehen sehen. Erst habe ich nicht realisiert, dass du meine Chatpartnerin bist, aber du hattest die Sachen an, über die wir gesprochen haben und hast dich wartend umgesehen. Da wurde es mir klar. Ich fuhr nach Hause und löschte den Account. Ich konnte dich nicht kennenlernen, verstehst du? Wochenlang habe ich mich dagegen gewehrt, aber ich habe mich in dich verliebt. Nicht in Pocahontas, sondern in dich als meine Schülerin.« Das verwirrte mich alles so sehr. »Und warum haben Sie dann die ganze Zeit von dieser Arbeitskollegin gesprochen, wenn Sie doch angeblich in mich verliebt sind?«, wollte ich von ihr wissen. »Ich habe nie gesagt, dass sie eine Arbeitskollegin ist. Ich habe nur gesagt, dass ich sie von der Arbeit kenne.« Ich sagte nichts. Mir fehlten die Worte.

»Ich wusste nicht, dass du es bist. Ich dachte, Pocahontas und ich können gute Freunde werden. Deshalb wollte ich sie treffen und dann standest du da. Ich war überfordert.« So langsam machte alles Sinn. Fühlte ich mich deshalb so angezogen von ihr? Weil mein Unterbewusstsein gewusst hatte, dass sie Lotta war? »Das ist gerade ziemlich viel. Deshalb wollten Sie also, dass ich nicht nach ihr suche. Weil Sie die ganze Zeit Lotta waren.« Sie nickte. »Mir war nicht klar, was für ein großes Chaos ich angerichtet hatte. Als du mir sagtest, du hättest dich in Lotta verliebt, da wollte ich dich auf Abstand halten, aber es ging nicht. Du hast nicht locker gelassen und ich konnte mich nicht länger gegen die Gefühle wehren. Ich wollte dich in meiner Nähe haben, es tut mir leid. Ich kann verstehen, dass du das erst verarbeiten musst.« Ich hatte Lotta endlich gefunden, aber es war kompliziert. Diese Liebe war verrückt. Hatte sie eine Chance? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich das dringende Bedürfnis hatte, ihr nah zu sein. Dieses Mal nahm ich ihren Kopf in meine Hände. Ich sah sie plötzlich mit anderen Augen und musste lächeln. »Ich glaube, ich habe mich direkt am ersten Tag in dich verliebt. Die ganze Zeit über wusste ich, dass du etwas mit der Sache zu tun hast, aber ich wusste nicht, welche Rolle du spielst. Ich war hin- und hergerissen zwischen dir und Lotta. Dabei seid ihr die gleiche Person. Ich musste oft an dich denken.« In ihrem Blick lag Wärme. Ich merkte, wie sie sich hinreißen ließ. »Ist es eigentlich in Ordnung, wenn ich »du« sage?«, fragte ich vorsichtig. Ein kurzes Nicken ihrerseits. Ich wurde mutig und näherte mich ihrem Mund, spürte ihren warmen Atem und gab ihr einen Kuss. Noch vor wenigen Minuten fühlte ich mich schwer wie Blei, aber nun fiel die ganze Last von mir ab. In meinem Inneren explodierte es. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Noch nie hatte ich etwas so sehr gewollt. Ich wollte mich nie wieder von ihren Lippen lösen. Die Zeit blieb stehen. Sie schmeckte so gut. Dann war es plötzlich vorbei. »Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte sie und räusperte sich. »Ja, bitte. Ich wurde heute morgen sowieso gefahren und bin nicht mit dem Fahrrad hier. Das passt gut.« Sie gab mir einen letzten zärtlichen Kuss und wir fuhren los. Es war für uns beide eine ungewohnte Situation, aber sie fühlte sich gut an. Im Auto schaltete sie das Radio an. Der Sprecher kündigte gerade »Gänsehaut« von Körner an.

»Es kommt so über dich wie ein Schauer ohne Regen. Lässt sich nicht beschreiben, deine Worte schweigen. Kleine Härchen stellen sich auf. Wenn es böse oder schlecht, wenn es gut ist oder echt. Gänsehaut lügt nie. Weil du fühlst, weil du lebst, und dein Herz zeigt den Weg. Gänsehaut lügt nie. Das ist wie: Du und ich für immer, kein Wort kann das erklären...«

Wir redeten nicht viel, lauschten beide einfach dem Song. Dann waren wir auch schon da. Ich wollte nicht aussteigen. Wollte bei ihr bleiben. Am besten für immer. »Wir sehen uns?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Ja, wir sehen uns.« Sie gab mir noch ihre Nummer und dann streichelte ich zum Abschied ihre Hand und sie bekam eine Gänsehaut. Dann stieg ich aus und sah ihrem Auto hinterher, bis es um die Ecke bog. Ein Gefühl - es fühlte sich an wie fliegen - breitete sich in meinem gesamten Körper aus. Einen Moment blieb ich noch in der Kälte stehen. Ich fühlte mich glücklich, als ich mit einem Lächeln ins Haus ging.

Unknown. || gxgWhere stories live. Discover now