Kapitel 9

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In der Nacht hatte ich kaum ein Auge zu bekommen. Ich verfluchte mich für meine eigene Dummheit. Ständig hatte ich Frau Lindbergers Gesicht vor Augen. Wie sie mich ansah kurz vor unserem Fast-Kuss. Ich hatte heute mit ihr Unterricht. Wie sollte ich das aushalten? Wie sollte ich mich ihr gegenüber verhalten? Ich wusste es nicht und die ganze Sache war mir so peinlich. Irgendwann hielt ich es nicht mehr im Bett aus und lange vor meinem Wecker stand ich auf. Neun Tage Schule noch, dachte ich. Dann waren endlich Weihnachtsferien. Aber ich konnte nicht mehr so lange warten. Heute Abend würde ich Lotta doch wieder schreiben und sie um ein früheres Treffen bitten.

In der Schule war ich sehr wachsam. Ich wollte Frau Lindberger ungern früher als geplant über den Weg laufen, aber im zweiten Block kam ich nicht drumherum. Sie betrat den Raum und ich wich ihrem Blick sofort aus. Wie kindisch, dachte ich und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Kati stieß mit ihrem Ellenbogen gegen meinen. Ich sah sie fragend an und sie stieß ihren Kopf nach vorn. »Elli?«, fragte Frau Lindberger. Beschämt hob ich den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. »Komm nach dem Unterricht bitte zu mir.« Stumm nickte ich. Die 90 Minuten zogen sich endlos lang hin. Ich war aufgeregt. Sie wollte also mit mir darüber sprechen. Ob sie sauer war?

Dann klingelte es. Alle verließen den Raum und sie schloss die Tür. Wir waren beide ganz alleine. »Es tut mir leid. Wirklich. Ich weiß nicht, was mit mir los war«, fing ich das Gespräch an. Sie unterbrach mich. »Ist schon in Ordnung. Ich möchte nur nicht, dass das zwischen uns steht. Von meiner Seite aus ist alles gut.« Erleichtert atmete ich aus. Sie fasste an meine Schulter. »Du bist wirklich ein tolles Mädchen. Ich möchte nicht, dass es dir schlecht geht.« Das wunderte mich. »Es geht mir nicht schlecht. Ich habe momentan nur etwas Gefühlschaos. Die Situation überfordert mich ein wenig und ich bin so froh, dass Sie mir nicht böse sind. Das hätte mir jetzt echt noch gefehlt«, erklärte ich ihr. »Gefühlschaos?«, fragte sie interessiert. »Ja, aber ist nicht so wichtig. Ich bekomme es schon auf die Reihe.« Kurz war es still zwischen uns. »Darf ich dich was fragen?« Ich hatte mich die ganze Zeit nicht getraut, aber nun sah ich zum ersten Mal in ihre Augen während des Gesprächs. Es war merkwürdig. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass ich mich in ihr verlor. In ihren Augen. Ich konnte es nicht beschreiben. Wenn sie da war, dann ging es mir besser. »Ja, natürlich dürfen Sie das.« Was wollte sie wissen? Ich war gespannt. »Es ist vielleicht etwas persönlich und es geht mich auch wirklich nichts an, aber du wolltest mich küssen. Und nun ja, ich bin eine Frau.« Oh, was sollte ich ihr denn jetzt sagen? Ich wusste, dass ich ihr vertrauen konnte. »Ja, ich habe in den letzten Monaten gemerkt, dass ich auch Frauen gut finde. Bitte behalten Sie das für sich. Ich habe mich noch nicht geoutet und für mich ist das alles noch neu.« Sie nickte. Dann fügte ich hinzu: »Ich möchte aber nicht, dass Sie denken, dass ich mich an Ihnen austesten wollte. Das war einfach eine Kurzschlussreaktion, die ich nicht erklären kann.« Ihre Hand lag noch immer auf meiner Schulter, aber sie ließ sie nun langsam über meinen Arm streifen, nahm meine Hand und betrachtete diese. Plötzlich breitete sich in mir wieder dieses starke Bedürfnis aus. Ich wollte sie küssen. Um jeden Preis. Bevor ich meine Gedanken in die Tat umsetzen konnte, ließ sie meine Hand los und drehte sich um. »Es ist ok. Schließlich ist ja nichts passiert. Ich behalte es für mich. Großes Indianerehrenwort. Wir sehen uns übermorgen«, flüsterte sie mir mit einem Lächeln zu. Dann packte sie ihre Sachen zusammen und ich ergriff die Flucht. Ich brauchte unbedingt frische Luft.

Zu Hause fiel ich erschöpft ins Bett und stöpselte mir die Kopfhörer in die Ohren. In meiner Musikbibliothek wählte ich »Wie soll ein Mensch das ertragen« von Philipp Poisel aus.

»Könnte ich einen einzigen Tag nur in meinem Leben dir gefallen, um dann ein einziges Mal nur in deine Arme zu fallen. Wie soll ein Mensch das ertragen? Dich alle Tage zu sehen. Ohne es einmal zu wagen, dir in die Augen zu sehen...«

Ich liebte und fühlte diesen Song. Er bedeutete mir viel. Momentan war ich mit mir selbst total überfordert. Wie konnte ich eine Frau küssen wollen, obwohl ich doch eine andere wollte? Ich stand zwischen den Stühlen. Das wurde ja immer besser. Noch nie hatte ich so viel für jemanden gefühlt. Ich war in Lotta verliebt, doch trotzdem verursachte Frau Lindberger auch etwas in mir, was ich nicht erklären konnte. Das durfte nicht sein. Ich musste das endlich klären. Also holte ich meinen Laptop und loggte mich bei »Polarus« ein. Lotta war nicht online. Neben ihrem Namen leuchtete der rote Punkt. 

Pocahontas: Hey, eigentlich wollte ich mich erstmal nicht einloggen, aber irgendwie kann ich nicht anders... Ich habe mich gefragt, ob wir uns nicht schon diese Woche treffen wollen? Der Weihnachtsmarkt hat in deinem Urlaub ja nicht mehr wirklich lange auf, weil dann bald Weihnachten ist. Ich würde mich freuen, möchte dich endlich persönlich kennenlernen.

Gespannt wartete ich auf eine Nachricht von ihr. Diese kam fast drei Stunden später.

Lotta: Ich freue mich, dass du wieder da bist. Und ja, ich würde mich gern schon diese Woche mit dir treffen. Wie sieht es morgen bei dir aus? Es ist etwas passiert mit ihr und mir. Ich muss es dir unbedingt erzählen. Brauche jemanden zum Reden.

Morgen schon? Mein Herz machte einen Sprung. Ich würde Lotta morgen endlich persönlich sehen! Als ich ihren nächsten Satz las, wurde mir übel. Was war passiert? Wollte ich das wissen? Vielleicht war es doch keine so gute Idee, dass ich ihr meine Gefühle offenbarte. Ich sollte erstmal das Treffen abwarten und nichts überstürzen.

Pocahontas: Morgen sieht es bei mir gut aus. Kennst du den Glühweinstand, der jedes Jahr vor dem Rathaus steht? Da könnten wir uns treffen um 19:00 Uhr. Oder ist dir das zu spät?

Lotta: Nein, den kenne ich leider nicht. Ich wohne noch nicht allzu lange hier. Aber ich werde ihn finden. Die Uhrzeit ist super.

Pocahontas: Wie erkenne ich dich?

Lotta: Ich werde eine rote Hose und Mütze tragen. Und wie erkenne ich dich?

Pocahontas: Ich werde eine schwarze Hose, einen braunen Parka und eine braune Mütze tragen. Rechts neben dem Stand kommt man in das Rathaus. Da werde ich stehen.

Lotta: Super, ich bin schon sehr gespannt! Bis morgen, schlaf gut. :-)

Ich wünschte ihr ebenfalls eine gute Nacht und dann war sie offline. Mit gemischten Gefühlen schlief ich an diesem Abend ein. Auf der einen Seite war ich unglaublich aufgeregt und auf der anderen Seite hatte ich Angst. Große Angst. Mit einer weiteren Enttäuschung würde ich nicht umgehen können.

Unknown. || gxgWhere stories live. Discover now