Kapitel 4

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Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte, verfinsterte sich meine Miene etwas. Die Sonne war weg, der Himmel bewölkt und es hatte geregnet. Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen. Die letzten Tage des Septembers brachen an und das Wetter hatte bis jetzt eigentlich immer ganz gut mitgespielt. Ich öffnete meine Musik-App und wählte »Leichtes Gepäck« von Silbermond aus.

»Eines Tages fällt dir auf, dass du 99% nicht brauchst. Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg, denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck. Du siehst dich um in deiner Wohnung, siehst ein Kabinett aus Sinnlosigkeiten. Siehst das Ergebnis von kaufen und kaufen von Dingen, von denen man denkt, man würde sie irgendwann brauchen. Siehst die Klamotten, die du nie getragen hast und die du nie tragen wirst und trotzdem bleiben sie bei dir...«

Leise summte ich mit und zog mich an. Im Bad benutzte ich »Sun« von Jil Sander. Im Sommer mochte ich diesen Duft sehr gern und ich wollte, dass der Sommer blieb. Zwei Spritzer. Ich schloss die Augen und erinnerte mich an die Ferien zurück. Mit meinen Eltern war ich zwei Wochen auf Fuerteventura gewesen und die restliche Zeit verbrachte ich mit meinen besten Freunden, zu denen Kati, Mila, Gabriel und Jonas gehörten, am See oder im Park. Es war ein toller Sommer. Von unten hörte ich meine Mama rufen: »Elli? Ich bin weg, bis heute Abend!" Ich wollte ihr noch antworten, aber die Tür fiel schon ins Schloss.

Ich fuhr früher los, da ich noch ins Sekretariat musste - ein Schreiben für meine Eltern abholen. Mein Fahrrad stellte ich wie gewohnt ab. Als ich es gerade ankettete, fing es wieder an zu regnen. Bloß nicht nass werden jetzt, dachte ich entsetzt. Aber ich wurde nicht nass. Verwundert sah ich nach oben. Jemand hatte einen großen Regenschirm über meinen Kopf gehalten und grinste mich schief an. Frau Lindberger. »Oh, danke«, brachte ich hervor. »Kein Problem. Beeil dich lieber, da wird gleich noch mehr runterkommen«, meinte sie und zeigte mit der freien Hand nach oben. Kurze Zeit später gingen wir mit schnellen Schritten in das Schulgebäude. Ich bedankte mich erneut und verabschiedete mich. »Ich muss jetzt noch ins Sekretariat.« Sie lächelte. »Das trifft sich doch gut, ich auch.« Ich nickte nur. Wieder gingen wir nebeneinander her, dieses Mal jedoch deutlich langsamer. Als wir ankamen, wollte ich ihr die Tür öffnen, aber sie hatte anscheinend die gleiche Idee und unsere Hände berührten sich. Ihre Haut war unbeschreiblich weich. Erschrocken zog ich meine Hand zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. Ich stammelte nur: »Ja, alles in Ordnung.« Dann ging ich vor und holte das Schreiben. Den restlichen Tag liefen wir uns nicht mehr über den Weg.

»Elli, please. Are you here with us?« Herr Luper, mein Englischlehrer, wedelte wild mit seinen Händen vor meinem Gesicht umher. »Hm?«, fragte ich abwesend. »Ich habe gefragt, ob du bei uns bist oder langweile ich dich?«, fragte er ruhig. »Sorry, nein. Sie langweilen mich nicht. Ich passe auf.« Er musterte mich noch kurz, dann ließ er mich wieder in Ruhe. Englisch gehörte mit zu meinen besten Fächer und ich verstand mich wirklich richtig gut mit ihm. Das war jetzt wohl meine Rettung, denn er mochte es nicht, wenn man ihm nicht zuhörte. Die restlichen Stunden zogen sich endlos lang hin und ich war froh, als es um 14:30 Uhr klingelte. Nur noch einen Tag überstehen, dann hatte ich endlich Wochenende. 

Zu Hause lag ein Zettel von meiner Mama auf dem Küchentisch. Sie musste in der Mittagspause hier gewesen sein. »Elli, ich hab dir was in den Kühlschrank gestellt. Bis später, hab dich lieb.« Neugierig öffnete ich die Kühlschranktür und musste unwillkürlich lächeln. Sie hatte mir Melone aufgeschnitten. Ich liebte Melonen und meine Mama liebte ich noch mehr. Mit dem Teller ging ich in mein Zimmer und startete den Laptop. Mit einigen Klicks war ich bei »Polarus« eingeloggt, aber Lotta war offline. Viele Nachrichten hatten mich erreicht in den letzten Tagen, aber ich hatte alle ignoriert. Sie interessierten mich nicht. Plötzlich wurde ihr Punkt grün. Ich wartete.

Lotta: Wartest du jeden Tag auf mich, bis ich online komme, oder was?

Pocahontas: Wieso?

Ihre Frage verunsicherte mich, denn ich wartete tatsächlich täglich darauf. Mir wurde etwas mulmig und ich hatte Angst vor ihrer Antwort.

Lotta: Das war nur ein Spaß. Jedes Mal, wenn ich dir schreibe, bist du schon da. :-)

Erleichtert lachte ich kurz auf. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Ganze Bäche kamen vom Himmel. So fühlte es sich jedenfalls an. Draußen donnerte und blitzte es. Ich mochte das, wenn ich zu Hause im Bett bleiben konnte jedenfalls. 

Pocahontas: Also ehrlich gesagt... Ich warte schon auf dich. Klingt blöd, ich weiß. Ich lüge dich nur ungern an. Ich schreibe gern mit dir. Noch nie konnte ich mich so gut mit einem anderen Menschen unterhalten.

Lotta: Oh. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Mir geht es auch so. Unsere Gespräche tun mir gut. Ich habe jetzt nur leider keine Zeit mehr. Muss noch ein paar Dinge besorgen und vorbereiten. Mein Freund kommt morgen und bleibt über das Wochenende. Das heißt, ich werde wohl erst Sonntag wieder online kommen. Mach dir ein paar schöne Tage. Ich hoffe, die Sonne kommt noch etwas raus. Der Regen ist schrecklich. Mach es gut.

Ich schluckte. Sie war mir in den wenigen Tagen wichtig geworden. Vielleicht zu wichtig.

Pocahontas: Danke, das mache ich. Euch wünsche ich auch viel Spaß. Genießt eure Zeit miteinander. Sie ist so wertvoll.

Dann war sie offline und ich mit meinen Gedanken alleine. Was sollte ich jetzt tun? Ich wollte Lotta gern treffen, aber dafür war es noch zu früh. Außerdem hatte ich sie bezüglich meines Alters angelogen. Sie würde den Kontakt abbrechen, wenn sie erfuhr, dass ich erst 18 Jahre alt war. Was hatte ich mir dabei nur gedacht?

An diesem Abend ging ich früh ins Bett. Meine Stimmung war irgendwie im Keller und meine Mama wollte wissen, was los war, aber ich blockte ab. Ich wollte nicht darüber reden, sondern einfach nur meine Ruhe haben. Als ich im Bett lag, kamen mir die Tränen. Ich kam mir albern vor, aber ich wünschte mir auch jemanden an meiner Seite. Lotta würde das Wochenende mit ihrem Freund verbringen und ich? Ich würde jeden Abend alleine einschlafen. Keine Küsse. Keine Zärtlichkeit. Keine schönen Gespräche. Ich hatte eigentlich keine Ahnung, wie es sich tatsächlich anfühlte, aber die Vorstellung war schön.  Meine erste große Liebe hatte ich noch nicht gefunden und es eilte auch nicht, doch trotzdem fühlte ich mich plötzlich einsam. Ich wischte die wenigen Tränen weg, die mir die Wange herunterliefen. Reiß dich zusammen, dachte ich und schlief schließlich ein.

Es war eine unruhige Nacht. Ich drehte mich die ganze Zeit hin und her. Als ich aufstand, betrachtete meine Mama mich nur argwöhnisch, sagte aber nichts weiter. Im Bad wusste ich dann auch, warum sie mich so anguckte. Ich hatte Augenringe des Todes, aber keine Lust mich zu schminken. Also fuhr ich so zur Schule.

Im ersten Block hatten wir wieder Englisch. Herr Luper ließ mich auch heute in Ruhe. Ich arbeitete schriftlich mit, in Gesprächen war ich jedoch nur körperlich anwesend. In Geschichte danach machte ich mir gar nicht erst die Mühe. Endlich fing der dritte und letzte Block an: Deutsch. Frau Lindberger gestaltete den Unterricht anders als die anderen Lehrer. Sie brachte mich dazu, ihr zuzuhören. Ihre Stimme war so ruhig und sanft. Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, aber dann klingelte es auch schon. Verblüfft schaute ich zur Uhr. Die Zeit verging wie im Flug! »Also gut, wir sehen uns dann nächste Woche, ihr Lieben!« Sie packte ihre Sachen zusammen und wartete. Ich war die letzte und sie wollte den Raum abschließen. »Und wie stelle ich mich an?«, fragte sie lachend. »Super, wirklich. Ich mochte Deutsch schon immer gern, aber jetzt gefällt es mir noch besser.« Wir grinsten uns beide an, sie streichelte mir dankend über den Arm, drehte sich um und ging in Richtung Lehrerzimmer.

Unknown. || gxgDonde viven las historias. Descúbrelo ahora