Kapitel 1

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Wahllos klickte ich etwas gelangweilt durch die unterschiedlichen Channel, die »Polarus« zu bieten hatte. Ich hatte mich vor drei Wochen in diesem Chatportal angemeldet, weil ich hoffte, dort endlich meine große Liebe zu finden. So ein Schwachsinn, dachte ich jetzt aber und ärgerte mich über meine eigene Dummheit. Ständig bekam ich Nachrichten von irgendwelchen Männern á la »Tut mir leid, wenn ich gleich mit der Tür ins Haus falle, aber der Kosmos muss etwas Besonderes mit uns vorhaben, sonst hätten wir uns hier nicht getroffen.« Zum Kotzen. Da fehlten mir wirklich die Worte.

Am Anfang antwortete ich noch, bis es mir dann nach einiger Zeit zu blöd wurde und ich die Nachrichten einfach ignorierte. Meine Hoffnung war nun endgültig verschwunden. Ich fragte mich, was das für verzweifelte Menschen waren, die sich dort anmeldeten, aber eigentlich war es mir vollkommen egal. Ich wollte keinen einzigen Gedanken mehr daran verschwenden und mich nicht mehr über mich selbst ärgern.

Jetzt saß ich hier an meinem Schreibtisch, lauschte dem Regen, der leise gegen meine Fensterscheibe prasselte und war wütend. Richtig wütend. Wie konnte ich nur glauben, dass man hier tatsächlich jemanden fand, der halbwegs normal war. Das war völlig absurd. Mein Blick glitt zur Seite. Genervt stöhnte ich auf. Ich hatte meine Hausaufgaben total vergessen. Abwechselnd schaute ich meinen Hefter und Laptop an. Was sollte ich jetzt tun? Die beste Lösung war, meinen Account zu löschen und mich an die Aufgaben zu setzen, obwohl mir dazu die Motivation fehlte. 

Wo genau konnte man sein Konto denn eigentlich entfernen? Langsam bewegte ich meinen Mauszeiger über den Bildschirm und klickte auf das Symbol für die Einstellungen. Ich verschaffte mir einen Überblick über die Möglichkeiten, die ich hatte. Kontodaten anpassen, Passwort ändern, da – Konto deaktivieren. Das hatte ich gesucht. Ich atmete tief durch und flüsterte leise: »Mach es gut, Polarus. Viel Glück hast du mir leider nicht gebracht.« Ein Klick noch und dann gab es mein Online-Ich »Pocahontas« nicht mehr.

Plopp. Vor Schreck zog ich meine Hand zurück. Eine neue Nachricht wurde mir angezeigt. Sollte ich sie noch lesen? Es war sowieso wieder ein unterbelichteter Anmachspruch und darauf konnte ich eigentlich sehr gut verzichten. Dennoch zögerte ich und gab »Polarus« noch eine letzte Chance, auch wenn ich wusste, dass es nichts brachte, aber ich musste meine Neugierde stillen und öffnete die Nachricht.

Lotta: So if I stand in front of a speeding car, would you tell me who you are, what you like?

Ich dachte angestrengt nach und fragte mich etwas verstimmt, was nur mit den Menschen los war, die so etwas verschickten. Ich wollte gerade auf das rote Kreuz rechts oben in der Ecke klicken, was den Chat schloss, da fiel es mir ein. Jemand hatte mir den Anfang meines Lieblingslieds »Speeding Cars« geschickt. Bei meiner Profilbeschreibung hatte ich das angegeben. Erst jetzt fiel mir auf, dass mich eine Frau angeschrieben hatte. Lotta. Was sollte ich antworten? Sollte ich überhaupt antworten? Schließlich entschloss ich mich dafür und tippte meine Antwort ein. 

Pocahontas: Das ist ja zur Abwechslung mal eine schöne Nachricht. Das hat man hier auch nicht allzu oft. Toller Song, oder?

Lotta: Ja, das stimmt. Ich bin noch relativ neu hier und das habe ich auch schon gemerkt, aber dein Profil hat mich dazu gebracht, dir nun doch zu schreiben. Es ist wirklich toll, ich habe mich auch sehr in das Lied verliebt. Vor kurzer Zeit durfte ich es live erleben – das war ein absoluter Gänsehautmoment!

Ich öffnete ihr Profil. Sie interessierte sich auch für Literatur und Musik und kam sogar aus der gleichen Stadt wie ich.

Pocahontas: Wow, hört sich auf jeden Fall richtig gut an. Ich bin übrigens Elli. Und du sicherlich Lotta?

Mein iPod lag auf dem Schreibtisch. Ich schnappte ihn mir, steckte die Kopfhörer ins Ohr und öffnete die Tracklist. Wo war es denn? Ich scrollte die Buchstaben an der Seite herunter bis zum »S« und wurde fündig. Die ersten Töne meines Lieblingslieds übertrumpften den Regen. Er war nun nicht mehr zu hören. Leise summte ich mit und wartete mit geschlossenen Augen auf eine Antwort. Ich mochte es, wenn ein Song mich berührte und dieser bedeutete mir viel.

Lotta: Ich bin eigentlich Charlotta, aber Lotta reicht vollkommen. Wie bist du denn auf »Pocahontas« gekommen? Was hörst du sonst so für Musik?

Pocahontas: Puh, also am liebsten höre ich deutsche Musik, bin aber natürlich auch für andere Dinge offen. Es ist schwer, sich da festzulegen, denn es gibt zu viele gute Musiker. Casper finde ich beispielsweise richtig super. Seine Texte gehen unter die Haut und das ist mir bei Musik wichtig. Pocahontas heiße ich, weil ich das gleichnamige Lied von AnnenMayKantereit liebe. Das gehört definitiv auch zu meinen Favoriten. Was hörst du?

Wir tauschten uns eine Weile über Musik, verschiedene Bücher und gute Filme aus. Bis mein Blick zum zweiten Mal an diesem Abend zur Seite glitt. Mist, dachte ich grimmig und rollte reflexartig mit den Augen. Meine Hausaufgaben. Mein Handy zeigte 23:11 Uhr an. Die Zeit verflog so schnell, was ich niemals gedacht hätte.

Pocahontas: Es war wirklich schön mit dir. Ich hoffe, wir lesen uns wieder. Bist du morgen Abend da? Das würde mich freuen. Leider muss ich jetzt offline gehen. Ich wünsche dir eine gute Nacht. :-)

Lotta: Das wollte ich auch gerade schreiben. Ich würde mich auch freuen, wenn wir uns wieder lesen. Morgen Abend komme ich wieder. Es war wirklich... sehr interessant mit dir. Schlaf gut, bis dann.

Dann war sie offline und ich saß noch eine Weile vor dem geöffneten Laptop. Ich hatte so viele Fragen. Ich wusste gar nicht, wie alt sie war, ob sie noch zur Schule ging oder schon arbeitete, aber das würde ich herausfinden. Es war schade, dass »Polarus« keine Bilder erlaubte und man somit nicht die Möglichkeit hatte, die andere Person zu sehen. Ich wusste, worauf ich mich einließ, aber jetzt machte es mich doch neugierig, wie sie aussah. Dann schaltete ich den Laptop aus und setzte mich an die Hausaufgaben. Als ich die Hälfte fertig hatte, merkte ich, wie sich die Müdigkeit ausbreitete und ich gähnen musste. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, als ich endlich den Hefter verstaute und ins Bad schlich. Meine Eltern schliefen schon und ich wollte sie nicht wecken. Schnell putzte ich die Zähne und betrachtete mich im Spiegel. Ich dachte über den ersten Eindruck nach. Was würde Lotta denken, wenn sie mich das erste Mal sah? Was würde ich über sie denken? Wenn wir uns dann überhaupt wirklich kennenlernen sollten, aber daran wollte ich jetzt noch gar nicht denken. Das konnte ich nach einem Abend nicht sagen, ermahnte ich mich und ging zurück in mein Zimmer.

Als ich das letzte Mal auf die Uhr sah, war es 00:12 Uhr. Meine Gedanken kreisten um Lotta, denn es war ein wirklich komischer Zufall gewesen. Als hätte sie gespürt, dass ich meinen Account gerade löschen wollte. Das Schicksal meinte es wohl gut mit mir und ich glaubte fest daran, dass das der Anfang einer wunderbaren Freundschaft werden konnte. Mit den Gedanken an den nächsten Abend schlief ich dann schließlich ein.

Unknown. || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt