Kapitel 2

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Harry:

Überrascht und vollkommen perplex starrte ich dem Mädchen hinterher. Während ihre Gestalt hinter der nächsten Häuserwand verschwand, rang mein Verstand verzweifelt nach einer Erklärung für die vergangenen paar Minuten. Was zur Hölle war eben passiert? War das irgendeine Art von dummem Witz? Unauffällig drehte ich den Kopf und ließ den Blick prüfend schweifen, doch die Gasse war menschenleer. Nichts, was darauf hindeutete, dass hier noch irgendwer außer mir war. Langsam kam mein in Schockstarre verfallendes Gehirn wieder in Gang, während meine Gedanken anfingen sich wie wild zu drehen. Es gab nur eine rationale Erklärung für das eben Geschehende: ich war gerade vermutlich der einzigen Person auf der Welt begegnet, die mich nicht kannte. Und das mitten in London. Heilige Scheiße.
Ich hatte mich inzwischen so daran gewöhnt, sofort überall im Mittelpunkt und umrundet von kreischenden und weinenden Mädchen zu stehen, dass ich eine Weile brauchte, um die volle Bedeutung der Situation zu realisieren. Doch sobald ich es verarbeitet hatte, fing ich wie ein Verrückter an loszulaufen. Ich redete mir selbst ein, dass ich nur neugierig war, doch je schneller ich rannte, desto mehr realisierte ich, dass es nicht nur das war. Ich durfte diese Chance unmöglich verstreichen lassen. Das hier war die einmalige Gelegenheit normal mit jemandem zu reden; jemandem, der mich als mich sah, als einen normalen Menschen.
Doch als ich endlich um die Ecke bog, erstreckte sich ein Meer von Menschen vor mir. Verdammt. Es schien unmöglich sie zwischen all den Leuten jemals wieder zu finden. Aber ich war noch nicht bereit aufzugeben. Mit einer schnellen Handbewegung setzte ich mir die Sonnenbrille wieder auf und versteckte zusätzlich meine Haare unter einer Kapuze, die ich mir tief ins Gesicht zog. Dieser Aufzug war nicht gerade unauffällig, aber als „seltsam" abgestempelt zu werden, war immer noch besser als erkannt zu werden. Wenn auch nur eine einzige Person hier draußen die leiseste Vermutung hätte, wer ich war, wäre ich verloren. Und dieses Risiko war ich nicht bereit einzugehen. Nicht jetzt, wo alles von meiner Anonymität abhing.

In weiter Entfernung meinte ich ihr langes, blondes Haar aufblitzen zu sehen und fing sofort an, mich entschlossen durch die Menschenmassen zu schieben. Verzweifelt versuchte ich das Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren, während ich gleichzeitig darauf bedacht war, niemandem zu nahe zu kommen, der mich trotz Kapuze und Sonnenbrille erkennen könnte.
Atemlos holte ich sie schließlich ein und wurde zögernd hinter ihr langsamer. Zum einen, um wieder zu Atem zu kommen und zum anderen um meine Gedanken zu ordnen und mir eine Vorgehensweise zu überlegen. Ich war die ganze Zeit so auf die Verfolgung fokussiert gewesen, dass ich mir bisher keine Gedanken darüber gemacht hatte. Nun stand ich hier und hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Im Kopf ging ich meine verschieden Möglichkeiten durch. Sie hielt mich wahrscheinlich schon so für verrückt, da würde sie diese Verfolgungsaktion nicht gerade von meiner geistigen Gesundheit überzeugen. Wenn ich sie jetzt von hinten, und auch noch in diesem Aufzug, ansprach, würde sie sicherlich anfangen um Hilfe zu rufen und alles wäre umsonst gewesen.

Während ich so über meine Möglichkeiten nachdachte, merkte ich, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen stahl. Ich hatte mir solange keine Gedanken mehr über sowas Simples wie Mädchen ansprechen machen müssen, dass ich die Situation trotz allem genoss. Es fühlte sich einfach so normal und gewöhnlich an, dass ich mich ein wenig in meine Zeit vor dem X-Faktor zurück versetzt fühlte, als ich noch ein ganz normaler englischer 16 jähriger Schüler war. Auf einmal war ich kein bisschen nervös mehr. Immer noch lächelnd überholte ich sie mit ein paar großen Schritten, zog mir die Kapuze vom Kopf und versperrte ihr den Weg.


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