Kapitel 46

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Ich:

Schwerfällig zog ich mich an der Wand hoch, um wieder aufrecht stehen zu können. Zwar fühlten sich meine Beine immer noch wackelig und schwach an, aber solange ich mich an die Wand lehnte ging es. Wenigstens konnte ich so auf einer Augenhöhe mit Liam sein und das letzte bisschen Rest Würde bewahren, das mir noch geblieben war.
Nicht mehr auf dem Boden zu kauern, fühlte sich besser an. Mir ging es immer noch miserabel, aber ich spürte wir der Selbstmitleid langsam von einem stärkeren Gefühl verdrängt wurde: Wut.
Es war keine heiße, glühende Wut, die sich wie Feuer durch deinen Körper brennt, sondern die Art von Wut, die dich eiskalt macht. Die Art von Wut, wenn du weißt, dass du nichts mehr zu verlieren hast. 

Ein paar Sekunden lang starrten Liam und ich uns wortlos an. Ich wusste dass ich ein erbärmliches Bild abgab; die Augen gerötet, verwischte Mascara über das ganze Gesicht verteilt und das T-Shirt nass vom Weinen. Unbewusst richtete ich mich noch ein bisschen weiter auf und streckte das Kinn ein wenig vor, wie ein trotziges Kind.
Liam sagte immer noch nichts, sondern musterte mich langsam von oben bis unten.

Ich hielt seinem Blick herausfordernd stand. Der mitleidige Ausdruck in seinem Gesicht machte mich nur noch wütender.
„Schau mich nicht so an“, sagte ich schließlich so ruhig ich konnte.
Liam hob eine Augenbraue. „Wie?“
„Als würde ich jeden Moment zusammenbrechen.“ Meine Worte langen kalt und verbittert. „Dafür bist du ein bisschen zu spät. Aber ich bin sicher Harry hat das Spektakel gefallen.“
Liam presste bei meinen harten Worten die Kiefer aufeinander.
„Du denkst doch nicht ernsthaft, dass irgendwer von uns die Situation genießen würde?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht mehr was ich denken soll. Bis vor kurzem dachte ich schließlich auch noch, dass mein fester Freund nur ein ganz normaler Junge und kein internationaler Popstar ist. Und ich dachte, dass seine Freunde auch meine Freunde wären. Dass du mein Freund wärst.“ Ich redete betont unbekümmert. „Schein so, als wäre ich generell nicht gut im Denken.“
Ich sah wie sehr meine Worte Liam trafen und für einen kurzen Moment verspürte ich einen Hauch Genugtuung. Seltsam wie der Schmerz anderer, dich kurz deinen eigenen vergessen ließ.
„Ich bin dein Freund“, wiedersprach er mir leise.
In diesem Moment ging die Tür erneut auf und Bree kam herein gestürmt. Ihre Haare hatten sich teilweise aus ihrem Zopf gelöst und fielen in unordentlichen Strähnen über ihrer Schultern. Ihre Haut war rot gefleckt vor Aufregung, doch trotz ihrem gestressten Aussehen leuchteten ihre Augen lebendig.
„Anna, du schuldest mir eine Erklärung! Wieso wa…“, fing sie an auf mich einzureden, erstarrte dann jedoch mitten im Satz als sie Liam erblickte. Ihr Mund blieb offen stehen und ihre Augen weiteten sich ungläubig.
„Heilige Scheiße“, hauchte sie und schien vorrübergehende vergessen zu haben, warum sie hier war.
„Uhhm hi “, sagte Liam und warf mir einen fragenden Blick zu.
„Das ist Bree, meine Freundin“, murmelte ich erklärend und bereute, dass ich nicht abgehauen war, als ich es noch konnte.
Brees Blick wanderte langsam zwischen mir und Liam hin und her.
„Also stimmt es wirklich“, flüsterte sie ungläubig und schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich fasse es nicht… Du und Harry Styles…“ Auf einmal wurde ihr Blick anklagend.
„Warum hast du es mir nie erzählt?“
Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Aber nur beinahe.
„Weil ich es bis eben selbst nicht wusste“, antwortete ich stattdessen trocken und blickte zu Liam herüber. Bree folgte meinem Blick und endlich schien ihr ein Licht aufzugehen.
„Oh“, sagte sie und verzog das Gesicht. Ich konnte förmlich sehen wie hin und her gerissen sie zwischen ihrem inneren Fangirl und ihrer Position als beste Freundin war.
„Hab‘ ja gesagt Harry ist ein Arsch“, murmelte sie schließlich, allerdings nicht sehr überzeugend.
Liam zog eine Augenbraue hoch und Bree wurde augenblicklich knallrot.
„Er ist trotzdem sehr talentiert.. dass seid ihr alle. Und gut aussehend. Warte, darf ich das sagen? Ich meine, Anna, klingt das komisch, wenn ich deinen Freund „heiß“ nenne? Moment mal, seid ihr überhaupt noch zusammen? Weil wenn nicht, dann ist das doch sicherlich okay für dich, oder? Ich meine, da gibt es tausend Mädchen, die Harry heiß finden. Dann stört es dich doch nicht, wenn ich das auch sage. Denn das ist er schließlich; unglaublich heiß und sexy. Du übrigens auch, Liam. Aber das hörst du wahrscheinlich jeden Tag“, faselte sie verlegen drauf los und machte damit die Situation nur noch peinlicher. Die unangenehme Stille, die auf ihren Wortschwall folgte, war allerdings fast noch schlimmer.
„Wäre es jetzt sehr unpassend, wenn ich nach einem Autogramm fragen würde?“, fragte Bree schließlich in die Stille hinein und erntete dafür den Todesblick von mir.
Liam trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und schien nicht recht zu wissen, wie er sich verhalten sollte.
„Anna, können wir nochmal kurz alleine reden? Unter vier Augen?“, murmelte er schließlich und warf Bree einen entschuldigenden Blick zu.
Diese schien fast dankbar für die Gelegenheit zur Flucht, allerdings schien sich auf einmal ein Hauch schlechten Gewissens bei ihr breit zu machen.
„Ich warte vor der Tür. Falls du mich brauchst, sag Bescheid“, flüsterte sie mir mit einem vielsagenden Blick zu und verschwand.
Ich schaute ihr kopfschüttelt hinterher. Mir war klar, dass sie es nicht böse meinte, aber manchmal fehlte es ihr einfach ein wenig an Feinfühligkeit. Allerdings wusste ich, dass ich mich darauf verlassen konnte, dass tatsächlich vor der Tür warten würde. Und wenn es draufankam, würde sie auf meiner Seite stehen, egal wer sich auf der anderen befand.

„Aufbrausende Freundin“, bemerkte Liam mit einem leichten Schmunzeln, doch seine Augen schauten mich wachsam an; versuchten meine aktuelle Stimmung einzuschätzen.

„Mag sein. Aber wenigstens ist sie immer ehrlich zu mir“, gab ich zurück und beobachtete wie Liams Miene sich erneut verhärtete. Mir war durchaus klar, was meine Worte bei ihm bewirkten, aber Kälte zu zeigen war der einzige Selbstschutz der mir einfiel. Verletzen oder selbst verletzt werden; ich hatte nicht wirklich eine Wahl.

„Anna…“, sagte Liam mit belegter Stimme und trat einen Schritt auf mich zu. „Ich wollte es dir sagen. Wirklich.“
Ich spürte wie meine eiserne Fassade bei Liams flehenden Worten langsam anfing zu bröckeln. Ich war einfach nicht gut darin meine wahren Emotionen zu unterdrücken.
„Warum hast du es dann nicht getan?“ Hoffentlich fiel ihm das leichte Zittern in meiner Stimme nicht auf.
„Ich dachte… Ich…“, stammelte Liam, verzweifelt bemüht die richtigen Worte zu finden. „Harry hatte mich gebeten es dir nicht zu erzählen. Ich dachte, ich würde das Richtige tun.“
Ich starrte ihn an. „Das Richtige?!“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme verächtlich klang. „Weißt du, was dein Problem ist, Liam? Du läufst herum und denkst, dass du so viel besser als Harry bist. Aber wenn es darauf ankommt, seid ihr euch ähnlicher als du es jemals zugeben würdest! Es spielt keine Rolle, dass du es mir erzählen wolltest. Du hast es nicht getan und das ist alles was zählt.“
Liam schüttelte den Kopf. „Du verstehst das nicht.“ Er trat einen Schritt näher an mich heran und blickte mir eindringlich in die Augen. „Ich weiß, dass ich nicht besser als Harry bin! Ich mache auch Fehler und tue Dinge, die ich nicht tun sollte. Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen, aber ich habe es nicht getan. Und diese Entscheidung werde ich vermutlich für den Rest meines Lebens bereuen.“
Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit, als ich seinen Blick erwiderte.
Liam kam noch ein Stückchen näher.
„Aber wenn ich schon den Rest meines Lebens in Reue verbringen werden, dann sollte es das wenigstens wert sein“, flüsterte er und ein kleines, trauriges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Dann küsste er mich.


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