32. ~ Blauer Brief

30 3 0
                                    




~ Carlos ~

Ein unheimlich nervtötendes Klingeln bohrte sich in meinen Kopf hinein. Was zur Hölle war das? Und warum musste es mich wecken?

Genervt schlug ich die Augen auf und bekam den Schock meines Lebens. Hatte ich etwa ernsthaft auf diesem Bahnhofsklo übernachtet? Fuck, wie erbärmlich war ich eigentlich? Laut vor mich hin fluchend richtete ich mich halbwegs auf. Ich hockte immer noch auf diesem dreckigen Bahnhofskloboden und war überall mit Blut vollgeschmiert. Von meinen Armen war es sogar runter auf den Boden getropft und hatte alles vollgesaut. Scheisse, was hatte ich nur wieder getan? Ich kam mir vor wie der hinterletzte Junkie, nur noch die Spritzen fehlten.

Das nervtötende Klingeln holte mich wieder zurück in die Wirklichkeit. Ich brauchte lange, um zu begreifen, dass das mein Handy war und nicht irgendein unerträglicher Feueralarm. Schwerfällig fischte ich das Teil aus meiner Jackentasche und wischte mit meinen blutigen Fingern über das Display. << Was ist? >>, knurrte ich unfreundlich ins Telefon.

<< Carlos, verdammt nochmal, wo steckst du? >>, brüllte Cathy mich an. Verdammt, sie hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. Ohne eine Antwort abzuwarten laberte sie einfach unbeirrt weiter. << Alter ich habe mir Sorgen gemacht. Ich hab gehört, dass du wieder mal einen riesen Stress mit Dad hattest. Was war denn los? >>

<< Hör mal >>, krächzte ich, << ich hab gerade echt keine Zeit. Ich erzähl es dir später. >> Gott sei Dank verzichtete sie darauf, mich auszufragen, warum ich keine Zeit hatte und gab sich geschlagen. << Hm, na gut! Aber bitte komm schnell nach Hause. Dad ist weg und Mom schläft noch, also keine Sorge. >> << Ja, ich komme so schnell es geht. Bis dann >>, wimmelte ich sie ab und drückte ohne eine Antwort abzuwarten auf Anruf beenden.

Verdammt noch mal, warum musste sie sich jetzt auch noch in diese Scheisse einmischen? Ich hatte sie eigentlich immer von all meinen Schwierigkeiten fernhalten wollen. Sie war meine Schwester und ich wollte sie nicht mit reinziehen, wenn ich Stress mit Dad hatte. Aber das was ich letzte Nacht abgezogen hatte, konnte ich ja wohl schlecht vor ihr geheim halten. In der Schule würde sie es sowieso erfahren.

Stöhnend zog ich mich an der Wand hoch. Ich musste jetzt erst mal von diesem dreckigen Bahnhofsklo verschwinden und mein Blut irgendwo abwischen. Schwankend kam ich auf die Beine. Irgendwie drehte sich alles um mich herum und ich hätte am liebsten gekotzt.

Aber ich riss mich zusammen, schloss die Klotür auf und schwankte zum Waschbecken. Ich musste meine ganze Konzentration dazu aufbringen, um den Wasserhahn anzuschalten. Verdammt nochmal, wie sollte ich es bloss nach Hause schaffen, wenn ich nicht mal einen Wasserhahn anschalten konnte?

Ungeschickt klatschte ich mir das eiskalte, nach Chlor stinkende Wasser ins Gesicht und wischte das Blut weg. An meinen Armen war es total eingetrocknet, sodass ich heftig reiben musste, dass es wegging. Natürlich riss ich dabei die neuesten Schnitte wieder auf. Fluchend wickelte ich mir ein paar Handabtrocknungstücher darum und warf anschliessend einen letzten Blick in den dreckigen Spiegel, um zu überprüfen, ob ich noch irgendwelche Blutspritzer im Gesicht hatte.

Anschliessend trat ich schwankend auf den Bahnhof hinaus. Zum Glück war keine Menschenseele zu sehen. Kein Wunder, es war halb sechs Uhr morgens, verriet mir die riesige Bahnhofsuhr. Hoffentlich fuhren überhaupt schon U-Bahnen. Ich hatte jetzt nämlich keine Lust, durch die ganze Stadt zu latschen. Wo war ich hier überhaupt und welche U-Bahn musste ich nehmen, um nach Hause zu kommen? Ich hatte keinen blassen Schimmer!

Missmutig machte ich mich auf die Suche nach irgendeinem Schild oder Fahrplan. Als ich endlich fündig wurde, hatte ich die allergrösste Mühe, das Teil zu entziffern. Alles um mich herum drehte sich und ich fühlte mich, als wäre ich sturzbetrunken. Ich musste meine allergrösste Konzentration aufbringen, um zu checken, dass ich mich bei Notting Hill Gate befand und um nach Hause zu kommen, die Central Line in Richtung Epping nehmen musste. Okay, das würde ich hoffentlich hinbekommen.

Escape...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt