Herr Böttcher - Weihnachten

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So hatte ich mir mein erstes Weihnachtsfest nicht vorgestellt. Allein! In dieser Wohnung. Da sitze ich nun und schaue aus dem Fenster dieser riesigen Wohnanlage. Unten liegt der Müll und geschneit hat es auch nicht. Stattdessen wieder dieser Regen der noch mehr auf mein Gemüht drückt. Ich habe mir eine kleine Kerze angesteckt und auf die Mitte des Holztisches gestellt. Ein bisschen Gemütlichkeit wollte ich mir damit schaffen. Aber es drück nur noch mehr auf meine Seele. Draußen auf dem Balkon gegenüber schreien sie sich gegenseitig an. Es schallt direkt zu mir herüber. Weihnachten ist nicht nur das Fest der Liebe. Ne, Ne da gibt es noch ganz viel dazwischen.

Über meine Wohnung kann ich nicht meckern 29 Quadratmeter für mich. Als Wohnung würde ich es nicht bezeichnen. Eher erinnert es mich an mein Jugendzimmer und unbeschwerte Zeiten in den 1950zigern. Da alles noch so frisch ist stehen hier überall die Umzugskarton herum. Aufräumen werde ich später. Es ging alles so schnell! Den Stapel werde ich Schritt für Schritt abbauen. Alles konnte ich sowieso nicht mitnehmen. Wo soll ich das Zeug auch alles lassen. 4000 Leute sollen hier drin wohnen aus unzähligen Nationen. Da hab ich kein Problem mit wenn die mich nur in Ruhe lassen. Ruhe die brauch ich jetzt auch erstmal. In diesem Komplex komme ich mir vor wie in einem Sandwich. 26 Stockwerke habe ich gezählt und ich bin irgendwie dazwischen. Gestern hat mich das Umzugsunternehmen hier abgeladen, dass ging Ruck Zuck. Ich war ja froh, dass mir jemand geholfen hat. „Schöne Weihnachten!" Haben die Jungs mir gewünscht. Feuchte Augen habe ich nur bekommen als sie mir einen kleinen Schokoweihnachtsmann überreicht haben. Auch schon wieder einige Stunden her. Seit dem bin ich allein. An Schlaf in der neuen Umgebung war nicht zu denken. Auf dem Flur haben sie lauthals rumrandaliert und geschrien. Später hörte es sich an als hätten sie sich wieder versöhnt. Jedenfalls drangen solche Geräusche an mein Ohr. So etwas kenne ich gar nicht von zu Hause. Das waren auch ganz andere Zeiten.

Ein kleines Büdchen habe ich gehabt. Mein Leben lang haben meine Frau und ich uns darin abgewechselt. Unsere Wohnung war gleich direkt gegenüber. Wenn sie aus dem Fenster schaute winkte ich ihr immer zu. Mittagessen gab es immer in unserem geliebten Büdchen. Manchmal so viel, dass für einige Stammkunden auch noch etwas übrig war. Hinten hatten wir einen kleinen Tisch, an den haben wir uns immer gesetzt. Wer dazu kam, kam dazu. Das waren manchmal lange Gespräche über Gott und die Welt. Meine Frau hat immer gesagt „Heinz! Wir können bald eine Seelsorge eröffnen." An manchen Tagen war es auch einfach zu viel. Nichts gegen die Kundschaft aber man hätte den Tag um einige Gespräche kürzen können.

„Schei**** Wer ist da? „Moment ich komme - diese Tür klemmt!" Vor mir steht wohl mein Nachbar. Eine verschrobene, unrasierte Gestalt. „Tschuldige! Ich wohn nebenan!" Bei der Stimme muss ich gleich an Udo Lindenberg denken. „Hab gesehen du bist gestern eingezogen. Wir woll'n heut Abend ein bisschen unten feiern und haben uns gedacht dabei könnten wir uns kennen lernen, oder?" So früh soll ich schon Entscheidungen treffen? „Du! Ich muss hier erstmal aufräumen! Kannst ja später nochmal vorbei kommen!" „Ja! Leb dich erstmal ein! Ich meld mich nochmal!" Ich schließe schnell die Tür. Die sollen mich doch alle in Ruhe lassen. So eine verschrobene Gestalt. Aber so etwas kenne ich. In den letzten Jahren kamen immer mehr von diesen „Leuten" an unser Büdchen. Erzählten stundenlang ihre Geschichten und wie ihnen das Leben mitgespielt hatte. Einige erzählten die Wahrheit, der Rest klang für meine Begriffe so haarsträubend, das konnten meine Frau und ich kaum glauben. Ich kann mir schon vorstellen was passiert wenn ich mitgehen würde. Da geht es von vorne los und jeder erzählt mir seine Leidensgeschichte. Mann! Ich hab mit mir selbst zu tun, da kann ich auch nicht noch Seelsorger spielen. Irgendwo hatte ich hier auch noch ein Bügelpils. Ach ja! In der Sporttasche. So dann kehren wir mal wieder an den Tisch zurück und beobachten die Nachbarn.

Die von Gegenüber sind wieder rein gegangen. Aber stiller ist es auch nicht geworden. Laute Musik, irgendwo grölt einer rum und dieses hämmern. Ein dumpfes Geräusch was schon die ganze Zeit anhält. Was hatten wir es früher lauschig. Unser Büdchen war in einer ordentlichen Wohngegend. Alles bodenständige Leute mit denen es keine Probleme gab und ruhig war es dort. Wir hatten einen kleinen Balkon zur Straße hin. Von dort hatte man immer unser Büdchen im Blick. Abendbrot war immer eine kommunikative Sache. Ständig kamen Kunden am Balkon vorbei und grüßten freundlich. Tolle Zeit gewesen, Jahrzehnte lang. Da kann ich mich über nix beschweren. Aber wo Licht ist, da ist auch Dunkelheit.

Herr Böttcher - Geschichten aus dem BlockWo Geschichten leben. Entdecke jetzt