Kapitel 16

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Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor bis endlich Anita bei mir ist. Ich halte diese Warterei kaum aus. Zudem bin ich unglaublich nervös. Ich habe Mergim ja noch nie gesehen. Wie wird er wohl reagieren, wenn er mich sieht? Unser erstes Treffen im Krankenhaus. Beschissener hätte das Ganze nicht laufen können. Aber was soll ich machen? Es ist nun mal so gekommen. Ich kriege keine Ruhe, bis ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, dass es ihm gut geht. Ich muss ihn sehen. Die Schuldgefühle bringen mich sonst noch um.

'Tina komm raus. Ich bin da' schreibt mir Anita. Sofort packe ich meine Tasche und gehe raus. Shit! Ich sehe bestimmt voll beschissen aus, aber was soll's. Ich sage meinen Eltern, dass ich eine Schularbeit mit Anita bis morgen fertig schreiben muss und wir das bei ihr zu Hause machen. Meine Mutter hat nichts dazu gesagt und mein Vater erst recht nicht. Er hat noch kein Wort mit mir gesprochen seit Mergims Mutter angerufen hat.

Während der Fahrt erzähle ich Anita alles. Es tut gut mit jemandem reden zu können. Noch besser ist es, wenn man sich verstanden fühlt und genau dieses Gefühl verspüre ich bei Anita. Sie versteht mich und urteilt nicht gleich sofort. «Sag mal, was willst du ihm denn sagen?» fragt Anita nach einer Weile. «Wem?» «Ja Mergim. Ihr hattet ja schon fast ein Jahr keinen Kontakt. Ich denke nicht, dass er weiss, dass seine Mutter bei dir zu Hause angerufen hat.» «Wirklich? Denkst du, dass sie es ihm verschweigt?» «Kann ja sein. Wie würdest du darauf reagieren, wenn deine Mutter einfach bei Mergim zu Hause anrufen würde?» Wenn ich so darüber nachdenke, muss ich Anita recht geben. Ich wäre stinksauer auf meine Mutter. Ich denke nicht, dass Mergims Mutter ihm von unserem Telefonat erzählen wird.

Unterwegs schreibe ich einer Freundin von mir, die beim Zürcher Kantonsspital arbeitet. Ich bitte sie darum mit die Zimmernummer von Mergims Zimmer in Basel anzugeben. Sie hat bestimmt Kontakte und kann das für mich klären. Kurze Zeit später bewahrt sich auch meine Vermutung. Sie schickt mir alle Angaben. Was für ein Glück, denke ich mir. Ärzte sind immer so heikel und geben überhaupt keine Informationen preis. Natürlich ist das ihr Job und sie sind dazu verpflichtet, aber manchmal ist es halt ein Notfall wie in diesem Fall.

Nach fast einer Stunde Fahrt kommen wir auch endlich in Basel an. Ich habe mir die ganze Fahrt über den Kopf darüber zerbrochen was ich Mergim sagen soll. Ich habe überhaupt keine Ahnung wie er reagieren wird. Ehrlich gesagt habe ich vor seiner Reaktion fürchterlich Angst.
Anita parkiert das Auto und wir steigen aus. Gemeinsam laufen wir zum Eingang. «Tina geh du alleine. Ich warte hier unten auf dich. Okay?» «In Ordnung. Danke Anita. Du bist die Beste» ich umarme sie und laufe zu den Aufzügen. Mit jedem Schritt steigt meine Nervosität. Ich weiss, dass ich nicht viel Zeit habe, weil ich bald wieder zu Hause sein muss und es auch schon Abend ist.

Als ich 2. Stock ankomme, suche ich Mergims Zimmer. Wieso können die Zimmer hier keine Fensterscheiben haben wie in der USA? Dann könnte ich sehen, wer sich im Zimmer befindet. Vor einer Tür bleibe ich stehen. Das ist es. Mergims Zimmer. Was ist, wenn jemand drinnen ist? Was soll ich dann sagen? Mir ist auf einmal alles so peinlich. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und öffne langsam die Tür. Ich laufe ein paar Schritte und sehe, dass niemand im Zimmer ist. Enttäuscht verlasse ich das Zimmer wieder. Scheisse! Wo ist er bloss? Als eine Krankenschwester vorbeiläuft, halte ich sie kurz auf. «Entschuldigen Sie mich, können Sie mir sagen wo dieser Patient ist?» «Wahrscheinlich wurde er verlegt» antwortet sie mir. Enttäuscht schaue ich sie an. «Könnten Sie mir auch sagen wohin? Es ist wirklich sehr wichtig.» Die Krankenschwester schaut mich irritiert an. Wahrscheinlich hat sie auch ein wenig Mitleid mit mir. So wie ich aussehe, habe ich Mitleid mit mir selber. Sie schreibt mir eine Zimmernummer auf und weist mir den Weg. Ich bedanke mich bei ihr und laufe auch gleich los.

Nun stehe ich wieder vor einer Tür. Dieses Mal öffne ich die Tür ohne zu zögern und gehe hinein. Es ist ein heller Raum mit einem grossen Fenster. Langsam nähere ich mich dem einzigen Bett, der im Zimmer steht. Ein Junge liegt auf dem Bett und schläft. Ich sehe eine Patientenkarte gleich neben dem Tisch. Mergim Nuraj. Langsam setze ich mich auf dem Stuhl neben dem Bett. Es tut mir im Herzen weh ihn so zu sehen. Das erste Mal sehe ich ihn und dann so? Mir fällt es schwer meine Tränen zu unterdrücken. Wenn er mich nicht kennengelernt hätte, dann wäre ihm das nie passiert. Ich gebe mir Schuld dafür, dass er nun hier liegt. Ich allein – und sonst niemand.

SchicksalsschlägeWhere stories live. Discover now