„Ich muss zum Flughafen."

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Angie starrte mich unsicher an, als es auf einmal still wurde. Dieses eiskalte, nervöse Gefühl in meinem Magen deutete mir an, dass ich gerade einen riesigen Fehler gemacht hatte.

„Debby, es tut mir leid. Ich hätte dich nicht dazu überreden sollen. Fuck, was habe ich mir nur gedacht..." Ich schaute auf meine Nägel.

„Ich habe ihn angerufen, nicht du. Gott, er hasst mich jetzt. Das wollte ich nicht. Ich war nur wütend. So wütend", murmelte ich. Als ob sie meine lahmen Ausreden interessierten.

„Er hasst dich nicht. Sonst hätte er dir nicht diesen Brief geschrieben. Er hat dich nicht aufgegeben. Das würde er nicht tun." Ich schaute auf und sah in ihr blasses Gesicht. Sie sah aus, als würde sie es ernst meinen. Aber sie kannte Shawn nicht. Er war zwar der geduldigste und netteste Mensch der Welt, doch niemand wäre dumm genug, um mir jetzt noch eine Chance zu geben. Ich hatte es vermasselt.

„Ich denke, ich sollte jetzt gehen. Meine Abreise. Mein Flug. Ich..."

Sie lächelte und unterbrach mich: „Schon okay. Ruh dich lieber aus! Ich bringe dich nach draußen." Nachdem ich mir schweigend wieder meinen Mantel angezogen hatte, sah ich sie mit Tränen in den Augen an. Wir würden uns jetzt eine Ewigkeit nicht mehr sehen. Natürlich würden wir den Kontakt halten, aber es war einfach nicht das gleiche. Das war uns klar. Ich fiel ihr in die Arme und zerquetschte sie fast.

„Angie, versprich mir, dass du diesen Laden hier am Laufen hältst. Du machst das großartig. Und viel Glück mit Boss. Ihr seid ein perfektes Paar. Ich denke, er ist der richtige für dich. Ich hab dich lieb!" Ich schluchzte.

„Und du bringst das wieder in Ordnung mit Shawn. Ich habe auch einmal gedacht, dass eine Beziehung nichts für mich ist, aber Dinge ändern sich. Es kommen Leute in dein Leben, die dich ändern. Das ist gut so. Ich glaube, dass du Shawn liebst. Vielleicht liege ich falsch, aber versprich mir, dass du es mit ihm versuchst! Werde glücklich! Und ruf mich an!" Ich drückte sie noch fester und meine Tränen vermischten sich mit ihren. „Ich hab dich lieb", flüsterte sie heiser in mein Ohr.

Als wir uns von einander lösten, war der Moment gekommen. Ich musste gehen. Ich trat an die frische Luft und die aufgehende Sonne schimmerte durch meinen Tränenschleier. Dann drehte ich mich lächelnd von ihr weg und machte mich auf den Weg nach Hause ohne noch einmal nach hinten zu schauen. Sonst hätte ich es nicht geschafft zu gehen.

Dann fuhr ich mit der U-Bahn bis ich mich unsicher vor der Haustüre meiner Eltern wieder fand. Ich wusste nicht, ob sie schon munter waren. Ich wusste nicht einmal, wie spät es war. Vorsichtig klopfte ich an und nach wenigen Sekunden wurde die Türe auch schon aufgerissen. Mein Vater blickte mich mit eiskaltem Blick an. Für einen kurzen Moment glaubte ich in seinen Augen Erleichterung aufflackern zu sehen, doch dann waren sie wieder ausdruckslos. Er war stocksauer.

„Wo warst du?", fragte er tonlos. Ich seufzte kurz und senkte den Kopf.

„Kann ich erst einmal rein?", bat ich sanft.

„Ich weiß nicht. Willst du das denn? Nicht, dass du wieder weglaufen musst", warf er sarkastisch ein.

„Papa..." Ich zuckte schuldbewusst zusammen.

Er drehte sich um und ging nach drinnen, doch ließ die Türe für mich offen. Ich trat vorsichtig ein und schloss sie. Danach sah ich zu unserem Esstisch, bei dem meine Mutter mit verheultem Gesicht saß und mein Bruder sie versuchte zu trösten. Beide sahen auf; meine Mama verletzt und mein Bruder enttäuscht. Ich wusste echt, wie man sich beliebt machte.

„Es tut mir leid", begann ich und das Schnauben von Michael unterbrach mich. Ich verdrehte die Augen.

„Ja, kommt schon, sagt mir alle, was für eine schlechte Person ich bin und dass ihr euch Sorgen wegen mir gemacht habt und ich mich schämen sollte! Mir ist es egal. Ich kann mich entschuldigen so viel ich will, ihr wollt es sowieso nicht hören, ihr wollt mir einfach nur Vorwürfe machen. Tut das, wenn es euch dann besser geht, es kümmert mich nicht! Schön langsam weiß ich selbst, was ich für ein furchtbarer Mensch bin. Gott, wie könnt ihr es nur mit mir aushalten? Und wie hat Chicago mich verändert? Genau, das ist wahrscheinlich Schuld. Nein, verdammt, ich bin Schuld. Ich bin es immer gewesen. Ich mache alles kaputt, bin undankbar und dumm. So dumm. Aber ich will mich ändern." Ich holte tief Luft und bemerkte, dass selbst mein Vater jetzt Tränen in den Augen hatte und sein Gesicht schmerzverzerrt war.

„Bitte sprich nie wieder so über dich, Debby! Du bist meine Tochter und ich liebe dich. Nie habe ich etwas anderes getan. Wenn ich dich ansehe, dann liegt in meinem Blick immer Bewunderung. Für dich. Für das, was du bist." Ich schluchzte und fiel ihm in die Arme.

„Ich liebe dich auch", flüsterte ich mit von den Tränen heiserer Stimme. Nach einer Weile spürte ich auch die Arme meiner Mutter und meines Bruders um mich.

„Schatz, du bist erwachsen. Du kannst zu uns kommen und gehen, wann du willst. Du bist immer willkommen, doch wenn du genug von uns hast, dann sag es einfach! Du musst nicht vor uns weglaufen", drang die versöhnliche Stimme meiner Mutter an mein Ohr.

„Mama, ich wollte doch nicht weglaufen. Es war nur so spät und ich wollte, musste, raus und dann hast du mich gesehen. Ich wollte nicht, dass du mich abhältst zu gehen und ich mit dir streiten muss. Es tut mir leid." Ich schniefte.

Einige Stunden später saßen wir auf der Couch, aßen Popcorn und Schokolade, schauten eine Komödie und lachten aus ganzem Herzen.

Als der Film zu Ende war, begann ich: „Mama? Papa?"

Sie hoben ihre Köpfe. „Ja?"

„Ich muss zum Flughafen. Ich habe in Chicago jemanden zurückgelassen, dem ich weh getan habe und muss mich jetzt bei ihm entschuldigen."

„Wen denn?", fragte meine Mutter gleichzeitig mit meinem Vater, der mich daran erinnerte, dass mein Flug schon morgen Abend ging.

Ich lachte und erzählte ihnen die ganze Geschichte, weil sie verdient hatten es zu wissen. Na ja, nicht die ganze. Die zensierte.

Wer hasst Geheimnisse genauso sehr wie ich und trotzdem will man sie immer wissen?

Dirty FriendsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt