Kapitel 3

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Sebastian konnte fast körperlich spüren, wie eine große Last von ihm abfiel, kaum dass er endlich für ein paar Minuten von seinem Master getrennt war. Es war nicht so, dass Ciel ihn nervte oder so etwas in der Art (auch wenn der junge Earl durchaus Talent dafür hatte, seine Bediensteten bis zur Weißglut zu treiben), es war vielmehr unerträglich, ihm so nah zu sein, ohne ihn berühren zu dürfen - und vor allem, ohne sich ihm wirklich nahe zu fühlen. Einen Moment lang stand Sebastian einfach nur regungslos in der Küche des Phantomhive-Anwesens, schloß die Augen und atmete tief durch, bevor er sich die Zutaten für den Schokoladenkuchen, den er backen wollte, zusammensuchte. Liebevoll rührte er die Zutaten zu einem Teig zusammen und füllte diesen in die beste Backform, die er finden konnte. Bei jedem seiner Handgriffe hatte er Ciels freudiges Gesicht vor Augen, als dieser es geschafft hatte, das Lied von Beethoven ganz durchzuspielen (mehr schlecht als recht, aber immerhin) und sich so seinen Kuchen verdient hatte. Ja, es machte Sebastian wirklich sehr glücklich, Ciel ausnahmsweise einmal fröhlich zu sehen. Und dass, obwohl es die stumme Wut und die tiefe Traurigkeit des Jungen war, in die er sich ... Moment mal, was dachte er da gerade bloß? Er musste wirklich ein wenig mehr auf seine Gedanken aufpassen. Diese Möglichkeit durfte er nicht einmal in Betracht ziehen! Es stimmte zwar, er fühlte sich zu Ciel hingezogen - aber das war eine rein körperliche Sache, oder? Ja, er mochte den jungen Earl mit seinem schwierigen Charakter und all seinen kleinen Schwächen, und er wollte ihn um jeden Preis beschützen - aber das war alles doch bloß ein Teil des Bundes, oder? Immerhin war er trotz allem noch ein Dämon. Er würde seinen Vertrag mit Ciel abschließen und sich anschließend seine Seele holen, oder? Und dann wäre er wieder ein Dämon wie jeder andere. War schön, dich getroffen zu haben, Menschlichkeit. Wann hatte er aufgehört, sich auf diesen Tag zu freuen? Und wann hatte er angefangen, ihn zu fürchten? Langsam wurde ihm klar, dass er sich zum ersten Mal in all den Jahrhunderten seines Lebens einen Menschen zum Reden wünschte. Aber wen gab es schon, der ihm zuhören würde? Die anderen Bediensteten des Phantomhive-Haushaltes standen nicht zur Debatte. Mal ganz davon abgesehen, dass sie gar nicht wissen durften, dass Sebastian ein Dämon war, schieden sie schon aufgrund ihrer Persönlichkeit aus. Tanaka war neuundneunzig Prozent der Zeit nicht zurechnungsfähig. Finnian war zu naiv, um das Problem überhaupt zu verstehen. Bard war in etwa so einfühlsam wie ein Vorschlaghammer. Und Maylene ... war einfach ein Fall für sich. Außerdem waren die letzten drei solche Klatschtanten, dass Sebastian seine Geheimnisse genauso gut als Schlagzeile auf dem Titelblatt der Times abdrucken konnte, wenn auch nur einer der drei davon erfuhr. Aber wem sollte er sich denn bitte anvertrauen? Ein Glockenläuten unterbrach seine bitteren und für ihn absolut untypischen Gedanken. Es war die Klingel vom Dienstboteneingang. Ein Wink des Schicksals? Nein, wohl eher die Teelieferung, die er für heute bestellt hatte. Froh, nicht mehr über dieses deprimierende Thema nachdenken zu müssen, ließ Sebastian den halbfertigen Kuchen auf dem Tisch stehen und bewegte sich dankbar in Richtung Tür. Als er die schlichte Holztür, die für Lieferanten aller Art gedacht war, öffnete, begrüßte ihn tatsächlich das vertraute schüchterne Lächeln der Teelieferantin. "Guten Morgen", sagte sie strahlend, wobei die Regentropfen in ihrem schwarzen Haar mit ihren grauen Augen um die Wette leuchteten. Die Tatsache, dass es bereits vier Uhr nachmittags war, ignorierte sie schlicht. "Guten Tag, Meary", antwortete Sebastian höflich. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es draußen regnete. Oder, um es besser auszudrücken: Es schüttete wie aus Eimern. Wie um alles in der Welt konnte dieses Mädchen bei dem Wetter so gute Laune haben? Und dabei trotzdem so traurig wirken, als wäre übermorgen ihr eigener Todestag? Aber wer auch nur eine Woche im Hause Phantomhive verbracht hatte, den wunderte so schnell nichts mehr. Hier gab es genug Verrückte für ganz England. "Komm ruhig herein", sagte Sebastian milde und trat einen Schritt von der Tür zurück, um Mary Platz zu machen. Auch wenn er das Mädchen für verrückt hielt, konnte er nicht abstreiten, dass er sie durchaus mochte. Im Gegensatz zu den meisten Verrückten, die in irgendeiner Weise mit der Familie Phantomhive in Verbindung standen, machte Merry zumindest keine zusätzliche Arbeit. Ganz im Gegenteil, die Teeverkäuferin war durch ihre Schüchternheit angenehm unaufdringlich. So hielt sie unsicher einen guten Meter Abstand von Sebastian, als sie ihm durch den Korridor in Richtung Küche folgte, als hätte sie Angst, ihm irgendwie zu nahe zu treten. Dabei war er sich sicher, dass sie insgeheim eine Schwäche für ihn hatte - was durchaus nichts Ungewöhnliches war, denn Sebastian erfreute sich wie alle Dämonen in Menschengestalt großer Beliebtheit bei den Frauen, und in manchen Fällen auch bei den Männern (wobei er nicht nur diesen nervtötenden Todesgott im Kopf hatte ...). Und er wusste das selbst sehr gut. Als sie in der Küche angekommen waren, kramte Mary die Teepakete aus ihrer Umhängetasche und stellte sie auf den Tisch, wobei ihr Blick auf den noch nicht gebackenen Schokoladenkuchen darauf fiel. "Der sieht ja fantastisch aus", bemerkte sie fröhlich und blickte Sebastian an. "Ist der für den Earl gedacht?" "Ja", antwortete der Butler knapp. "Ich bin richtig neidisch. Ciel muss sich wirklich glücklich schätzen, einen Butler zu haben, der selbst solche kleinen Dinge mit so viel Liebe erledigt ..." Liebe? Das Wort traf Sebastian direkt in der Magengegend. Hatte sie da gerade Liebe gesagt? Überrascht legte Mary den Kopf schief. Ein schuldbewusster Ausdruck zeichnete sich in ihrem sanften Blick ab. "Habe ich etwas Falsches gesagt?", fragte sie unsicher, lächelte aber sofort wieder. "Ich wollte deinem Master den Kuchen ganz bestimmt nicht wegnehmen, so köstlich er auch aussieht", scherzte sie. Sebastian brauchte einen Moment zu lange, um überhaupt zu verstehen, was Mary gerade zu ihm gesagt hatte. "Sebastian", kam sie ihm zuvor, "wenn ich dich irgendwie gekränkt habe, tut es mir wirklich leid. Ich habe es nicht so gemeint." "Nein, schon gut, es ist nicht deine Schuld", versuchte er die Sache abzutun. Wenn es einen Menschen in seinem Umfeld gab, von dem er nicht wollte, dass er unnötige Schuldgefühle hatte, dann stand diese Person gerade vor ihm. Marys Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur milder als sonst. "Machst du dir wegen irgendetwas Sorgen, Sebastian? Du wirkst so betrübt und in Gedanken heute." Warum war sie heute so gesprächig? Sonst brachte sie kaum einen Ton hervor. Sebastian wollte schon dazu ansetzen, sich irgendwie herauszureden, aber dann überlegte er es sich anders. Hatte er nicht gerade noch jemanden zum Reden gesucht? Und einen Moment später hatte Mary vor der Tür gestanden. Schicksal? Zufall? Wie auch immer, wenn er eine Gelegenheit gesucht hatte, sich seine Probleme von der Seele zu reden: Hier war sie. Er dachte jetzt doch nicht ernsthaft darüber nach, sich ausgerechnet einer so gut wie Fremden anzuvertrauen? Doch, das tat er. Er musste mittlerweile ja richtig erbärmlich sein. Aber naja, falls es nicht klappte, konnte er hinterher das Mädchen notfalls ja immer noch umbringen. "Mary, hast du vielleicht ein paar Minuten Zeit, um mit mir eine Tasse Tee zu trinken?", wagte er schließlich den Sprung ins kalte Wasser. Möglicherweise konnte er die Tatsache, dass er kein Mensch war, einfach nicht erwähnen. Seine Probleme klangen auch so abenteuerlich genug. "Du willst mit mir Tee trinken?", fragte das Mädchen überrascht. Der Ausdruck auf ihrem blassen Gesicht bestand einen Moment lang aus völliger Ungläubigkeit, doch im nächsten Moment strahlte sie wieder. "Ich weiß zwar nicht, wie ich zu der Ehre komme, aber wenn ich schon einmal die Gelegenheit habe, mir von einem echten Butler Tee servieren zu lassen, werde ich sie mir bestimmt nicht entgehen lassen." Sie zwinkerte ihm zu und setzte sich an den Tisch. Nervös nahm Sebastian die Kuchenform vom Tisch und schob sie in den Ofen, bevor er das Wasser für den Tee aufsetzte. Jetzt, wo er endlich einen Gesprächspartner gefunden hatte, versuchte er verzweifelt, Zeit zu schinden und das Gespräch hinauszuzögern. Er hatte noch niemals mit einer anderen Person über sich persönlich geredet. Wie lief so etwas überhaupt ab? Wenn er mit Ciel sprach, drehten sich die Inhalte des Gesagten entweder um Geschäftliches oder beide schweiften in philosophische Theorien über ihr Schicksal ab. Wirklich herzerwärmend. Sebastian seufzte in Gedanken. Wenn er noch sehr viel länger mit Ciel zusammen war, würde er noch menschlich werden. Mit menschlichen Schwächen. „Was ist los, Sebastian?", grinste Mary ihn an, die gerade offenbar ihre freche Seite entdeckt hatte. „Du bist doch nicht wegen mir so nervös, oder?" Sebastian versuchte, sein Gesicht zu einem Lächeln zu überreden, versagte aber offensichtlich kläglich - jedenfalls Marys halb besorgten, halb belustigten Gesichtsausdruck nach zu urteilen. „Mal im Ernst, Sebastian", sagte sie und nickte dankend, als der plötzlich etwas ungeschickt gewordene Butler eine Tasse vor sie auf den Tisch stellte. „Ich weiß, dass du mir den Tee nicht angeboten hast, weil du meine Gesellschaft so sehr genießt. Und ich sehe dir an, dass dich etwas schwer beschäftigt in letzter Zeit. Also, warum willst du mit mir sprechen?" Dieses Mädchen war unheimlich. Bisher hatte Sebastian noch nie einen Menschen getroffen, der seine Gefühle lesen konnte. Und dann tauchte so mir nichts, dir nichts so jemand direkt vor seiner Nase auf. Er musste seine Überzeugung, dass es soetwas wie Schicksal nicht gab, noch einmal überdenken. Es gab das Schicksal offensichtlich. Und es schien sogar eine Art von Humor zu haben - ausgesprochen seltsamen Humor, wohlgemerkt. Er setzte sich Mary gegenüber und fragte sich, wie er wohl am besten anfangen sollte. Sollte er gleich zum Kern seines Problems kommen oder rechtfertigte er sich lieber gleich? Was sollte er erzählen, was lieber verschweigen? „Also, die Sache ist die ...", setzte er schließlich an. „Ich wollte tatsächlich mit dir reden, aber ich weiß nicht, ob das so richtig ist." Wundervoll. Ein Dämon, der ohne zu zögern mit durchgedrehten Todesgöttern kämpfte, aber sich bei einem ganz gewöhnlichen Gespräch wie ein Idiot anstellte. Er wünschte sich einen Moment lang, Grell würde auftauchen und das Anwesen auseinandernehmen, nur damit er unternehmen konnte, das er auch wirklich konnte. Er spürte eine Berührung an seinem Arm. Als er aufblickte, sah er in Marys beinahe schon widerlich freundliches Gesicht. „Hey, ist schon in Ordnung", lächelte sie aufmunternd. „Es macht mir nichts aus, dir zuzuhören. Wir kennen uns zwar nicht so gut, aber ich mag dich wirklich, Sebastian. Ich schwöre dir, dass kein Wort von dem, was du mir anvertraust, meine Lippen verlassen wird. Und ich werde dich auch nicht auslachen, versprochen." Sebastian nickte. Er durchschaute die barmherzige Psychologinnen-Nummer durchaus, aber trotzdem ... Ein großes Stück seiner Anspannung fiel von ihm ab. Irgendetwas sagte ihm, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er hoffte inständig, dass es keine Einbildung war. „Du hast Recht", gestand er. „Ich ... habe ein kleines Problem." „Hat es etwas mit deiner Arbeit zu tun?"

Eine Teuflische Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt