19. Kapitel ~Bleib realistisch~ ✔

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Mir stockt der Atem. Zunächst realisiere ich nicht, dass sie anscheinend für mich bestimmt ist, bis er sie mir hinhält. Mein Herz pumpt derweil immer schneller Blut in meinen Kopf, der mittlerweile gar nicht mehr klar denken kann. Vorsichtig stellt er den Rucksack auf den Boden und geht einen Schritt näher an mich heran: ,,Irgendetwas sagt mir, dass die letzten Tage nicht besonders leicht für dich waren und da du die Blauen am liebsten hast.."

„Woher hast du die denn?", hauche ich und öffne den Mund. Blaue Tulpen sind beinahe unmöglich zu züchten. Deshalb sind ihre Blüten meistens dunkel lila mit einigen blauen Striemen darin. Es ist nicht sonderlich leicht genau solche zu finden.

,,Das bleibt mein Geheimnis." Tim lächelt verschwörerisch: ,,Es sei denn, du willst sie nicht." Er zieht sie ein Stück zurück, doch da greife ich bereits nach dem Stängel: ,,Das habe ich nicht gesagt!". Sofort lässt er sie los. Mein anfänglicher Schock weicht der puren Dankbarkeit. Er schenkt mir mit dieser Tulpe nicht nur ein Stückchen Unendlichkeit, sondern gleichzeitig auch viele schöne Erinnerungen. Und zum ersten Mal seit einem Jahr werde ich nicht traurig allein bei dem Gedanken daran.

,,Danke, du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet", lächelnd hebe ich die Blume an meine Nase, um daran zu riechen. Eine Welle an Glück überkommt mich. Noch besser könnte der Tag jetzt schon nicht mehr werden. ,,Dafür doch nicht", entgegnet Tim und räuspert sich unauffällig: ,,wollen wir?". Ich schließe kurz die Augen, genieße den angenehm leichten Duft der Tulpe und sehe ihn dann mit einem Grinsen auf den Lippen an: ,,Ja, gerne".

Wie die Woche zuvor auch, hat Tim ein paar Kleinigkeiten für uns vorbereitet, die ich genüsslich verspeise. Dabei wandert meine Aufmerksamkeit immer wieder zu der blauen Tulpe, die rechts von mir auf der Picknickdecke liegt. An diese kleinen Ausflüge mit ihm könnte ich mich durchaus gewöhnen.

,,Jedenfalls habe ich draußen mit einer Freundin schmiere gestanden, während die beiden Idioten da hoch geklettert und in dem Gebäude verschwunden sind." Tim hört der kleinen Geschichte aus den rebellischeren Zeiten meiner Jugend gespannt zu. Damals hatte ich wohl echt einen Hang zur Gefahr. Heute würde ich definitiv nicht mehr ein abgesperrtes Gelände einer ehemaligen Psychiatrie betreten.

,,Das hätte ich nicht von dir gedacht. Wurdet ihr denn erwischt?", fragt mein Gegenüber neugierig und steckt sich ein Apfelstück in den Mund. ,,Natürlich nicht. Meine Eltern wären durchgedreht. Vermutlich dürfte ich bis heute nicht raus, wäre es anders gelaufen. Naja, jedenfalls waren die zwei eine Weile verschwunden, bis einer von ihnen geschrien hat und völlig panisch aus dem in circa drei Meter Höhe gelegenen Fenster gesprungen ist. Glaub mir, in diesem Moment habe ich schon damit gerechnet, dass irgendein Geist ihn erschreckt hat, dabei wurde er lediglich von einer Wespe gestochen."

Tim fängt an zu lachen und auch ich kann es mir nicht verkneifen. Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen. ,,Wenigstens ist euch nichts passiert, man weiß schließlich nie, ob nicht doch noch verstorbene Seelen ihr Unwesen dort getrieben haben", scherzt er und senkt gespenstisch seine Stimme. Allmählich geht die Sonne unter und ich will heute Abend nicht unbedingt von gruseligen Gestalten träumen.

,,Themawechsel", werfe ich ein und reibe mir die Arme. Ich hasse alles, was nur ansatzweise mit dem Wort Horror zu tun hat. ,,Was, dabei wurde es gerade interessant. Man erzählt sich hier auch so einiges über die Wälder und Gebirge von Kaikoura, angeblich soll eine Frau-".

,,Das will ich nicht hören!", unterbreche ich ihn und halte mir die Hände auf die Ohren. ,,Ok, ok, ich lasse es", wehrt er ab und beißt in ein weiteres Apfelstück. Vorsichtig nehme ich die Hände wieder weg und greife ebenfalls nach dem Obst. ,,Andererseits ist es eine echt interessante Geschichte, du-". Bevor Tim weitersprechen kann, bewerfe ich ihn mit einer Weintraube und hebe drohend den Finger: ,,Hör auf!". Ein Grinsen stiehlt sich auf meine Lippen.

Tim legt einen gespielt beleidigten Gesichtsausdruck auf: ,,Du bewirfst mich einfach so mit einer Weintraube?". Ich zucke nur mit den Schultern. ,,Na warte", er nimmt sich ebenfalls eine Traube und schmeißt sie mir mitten an die Wange. ,,Du", setze ich an und prompt landet ein Bananenstück an seinem Hemd, das dort wie Kleber haften bleibt. So schnell, wie Tim die Schale beiseite schiebt und sich zu mir rüber beugt, um mir die Bananenscheibe ins Gesicht zu drücken kann ich gar nicht reagieren.

Geschickt zieht er mich an seine Brust, legt behutsam einen Arm um meine Schultern und klatscht sie mir mitten auf die Stirn. Umständlich stütze ich mich auf der Decke ab und kneife angewidert die Augen zusammen. ,,Baah, Tim!". Lachend befreie ich mich aus seinem Griff und wische mir die Banane weg. Besagter kann sich gar nicht mehr einkriegen. Ich schupse ihn leicht weg und richte meinen Pferdeschwanz, der bei seiner Aktion etwas verrutscht ist. ,,Hm?", tut er unwissend und entblößt dabei seine perfekt weißen Zähne.

Mit verdrehten Augen sammele ich das Obst ein und packe es weitestgehend in die Schale zurück. ,,Das war nicht nett", meckere ich und spüre, wie er mich von der Seite aus anschaut. Meine Haut fängt unter seinem intensiven Blick förmlich an zu brennen. ,,So konnte ich wenigstens dein schönes Lachen hören", sagt er und richtet sich dann auf. Perplex verfolge ich jede seiner Bewegungen.
Mein schönes Lachen? Ich werde rot.

,,Komm, wir laufen ein Stück, ich will dir etwas zeigen." Abwartend streckt er mir seine Hand hin, nach der ich zögerlich greife. Noch viel zu aufgewühlt von seinen Worten folge ich ihm. Wir laufen geradewegs auf den Sonnenuntergang zu. Lediglich die äußerste Kante der großen Himmelsscheibe erleuchtet den Horizont, bis auch dieser von den Bergen verschluckt wird. Meine Finger streifen durch die weichen Weizen, die sanft im Wind hin und her schwingen.

Zwar sind seit Tims' Äußerung einige Minuten vergangen und dennoch scheint mein Herz nicht mehr langsamer schlagen zu wollen. Vermutlich hat er sich dabei auch gar nichts gedacht. ,,Hier ist es gut", höre ich ihn in die Stille flüstern, die mir nicht einmal unangenehm ist. Wir bleiben beide zeitgleich stehen, wie, als wären unsere Körper durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Ich schaue Tim nur an, widerstehe dem inneren Drang danach zu fragen, was er mir nun genau zeigen will, denn ich sehe absolut nichts. Lediglich ein paar Sterne am Himmel und einen einzelnen Baum, der mitten aus dem Kornfeld emporragt.

Abwartend verschränke ich die Arme vor der Brust. Tim grinst wissend, was mich beinahe wahnsinnig macht. Wieso muss er es auch so spannend machen? ,,Gleich siehst du den Grund, warum ich dich hier hin mitgeschleppt habe", raunt er und stellt sich hinter mich um mit seinem Zeigefinger neben meinem Kopf an mir vorbei zu deuten: ,,Schau genau dorthin."

Und das mache ich. Ignoriere die Gänsehaut, die sich bei seiner Nähe auf meinem gesamten Körper bildet. Warte gefühlt Stunden, auch wenn es in Wirklichkeit nur wenige Sekunden sind, bis ich es tatsächlich sehen kann. Zunächst kommt es mir nicht real vor. Ein blaues Funkeln steigt vom Getreide auf und verschwindet dann sofort wieder, bis es erneut aufglimmt. Ein weiteres folgt, ehe gefühlt hunderte blaue Punkte vor uns aufleuchten.

,,Glühwürmchen", hauche ich mit weit aufgerissenen Augen. Ich habe schon oft davon gelesen, dass sie sich besonders auf Neuseeland wohlfühlen. Sie leuchten nicht wie bei uns gelblich sondern blau.

,,Ja", entgegnet Tim. Mit geöffnetem Mund gehe ich ein paar Schritte und drehe mich langsam um meine eigene Achse. Rings um uns herum schweben sie lautlos. Über uns ein Meer aus Sternen. Eine schönere Nacht habe ich noch nie miterlebt. ,,Das ist unglaublich", sage ich begeistert und lächele Tim dankend an. Er stellt sich schweigend neben mich, erwidert mein Grinsen und blickt dann geradeaus. Ich tue es ihm gleich. Spüre die kühle Nachtluft durch meine Haare streifen und dann tut er es. Wagt den nächsten Schritt, der für einen Außenstehenden gar unbedeutend erscheinen könnte, für mich allerdings weitaus mehr bedeutet.

Zunächst berührt Tims' Finger nur vorsichtig meinen, bevor er sich letztendlich dazu entschließt nach meiner ganzen Hand zu greifen und sanft seine Finger mit meinen zu verschränken. Es raubt mir kurzzeitig die Luft zum Atmen. Ein Gefühl, dass so schön ist, niemand vermag es in Worte zu fassen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und fange vor Scham an zu Grinsen, bevor ich meinen Kopf leicht an seine Schulter lehne und den Moment auskoste.

Einen Moment, den es unter Milliarden nur einmal so gibt. Und für kein Geld der Welt würde ich ihn eintauschen wollen. Niemals.

Soulpath - forever yours [LAUFEND]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt