19. Kapitel ~Bleib realistisch~ ✔

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Lied: Vance Joy - Fire and the Flood

Zum ersten Mal seit Tagen, bin ich wieder richtig glücklich. Ich hätte mich viel eher mit Tim treffen sollen. Er tut mir gut. Sehr sogar. Diese Tatsache ist mir zwar schon seit längerem bewusst, dennoch überrascht es mich jedes Mal aufs neue, wie leicht es mir mit ihm fällt, all das negative, was mich beschäftigt, vergessen zu können.

,,Land oder Wasser?", fragt Tim neugierig. Es ist eine von vielen Fragen, die er mir in der letzten halben Stunde gestellt hat. Vermutlich versucht er so mehr über meine Persönlichkeit herauszufinden. Man sagt ja bekanntlich, dass die Antwort viel über einen Menschen aussagen kann.

,,Das ist einfach. Ganz klar Wasser", entgegne ich knapp und streichele Leo über seine Mähne. ,,Das wollte ich hören", sagt Tim hinter mir und biegt einen kleinen Wanderweg, der am Waldrand entlang verläuft ein. ,,Du machst es wirklich spannend", stelle ich fest und drehe mich zu ihm um. Es fühlt sich merkwürdig an, ihn erneut so nah an meinem Körper spüren zu können. Merkwürdig vertraut.

,,Meine Lippen sind versiegelt. Aber keine Sorge, du musst nicht mehr lange warten."
Toll. Hibbelig recke ich das Kinn in die Luft, doch weit und breit ist nur Feld zu sehen. Nichts unbedingt besonderes in Kaikoura.

,,Gut, noch eine Letzte; Tradition oder Fortschritt?", raunt Tim in die Stille, die lediglich vom Zwitschern der Vögel mit Leben erfüllt wird. ,,Hm", nachdenklich lege ich die Stirn in Falten. ,,Fortschritt", antworte ich überzeugt und lege den Kopf in den Nacken.

,,Warum?", will er wissen. Das ist dann doch etwas zu einfach: ,,Naja, ohne den Fortschritt, wäre die Menschheit nicht an dem Punkt, wo sie momentan ist. Denk allein an die Entwicklung, die es in den letzten Jahrzehnten in der Medizin gegeben hat. Wären die Wissenschaftler damals bei ihrer Tradition geblieben, hätten nicht über den Tellerrand hinausgeschaut, gebe es nicht so viele Heilmittel gegen Krankheiten. Jetzt soll es ja angeblich sogar eine Therapie geben, die Krebszellen bekämpfen kann. Zumindest in der Theorie", hänge ich noch hinten dran, da ich leider nicht mehr eine der Glücklichen sein werde, die an diesem Wunder teilhat.

,,Du hast recht, aber das haben sie auch in gewisser weise den Traditionen zu verdanken. Schließlich waren sie letztendlich der Grund, warum sie erkannt haben, dass so gewisse Behandlungsmethoden nicht mehr funktionieren, egal wie gut sie einstudiert sind. Trotzdem, ich würde auch immer den Fortschritt wählen, selbst wenn Traditionen ein wesentlicher Teil des Lebens sind", beendet Tim seinen Satz.

Ein Lächeln huscht über meine Lippen. Ich liebe diese Art von Gesprächen. Mit David konnte ich auch ständig über Gott und die Welt sprechen. So etwas findet man nicht oft.
,,So, da wären wir." Ein wenig aufgeregt erkunde ich die Umgebung, die sich nicht sonderlich verändert hat. Der Wald links von uns und ein weites Kornfeld rechts. ,,Okay?", frage ich mehr, als das ich antworte. Vielleicht sollte ich ein wenig enthusiastischer sein.

,,Gefällt es dir nicht?", fragt er seelenruhig und steigt von Leo ab. Geistesabwesend lasse ich mir von ihm runter helfen, bis ich relativ unbeholfen vor ihm stehe. ,,Doch, natürlich!", sage ich schnell, damit ich nicht undankbar erscheine. Und die Landschaft hier ist tatsächlich noch schöner. Allein der Blick auf die Gebirgskette ist atemberaubend.

,,Aber, du hast etwas anderes erwartet." Tim hebt herausfordernd eine Augenbraue an. Ich zucke nur mit dem Schultern. ,,Naja, vielleicht eine gruselige Hütte im Wald, einen langen Tunnel und eine Folterkammer", scherze ich und sehe ihn grinsen. ,,HA-HA, du Witzbold", äfft er mich nach und macht einen Rucksack von Leos Sattel ab. Er reicht mir eine rote Wolldecke, bis er sich nachdenklich an die Stirn fasst: ,,Da war doch noch was...ach ja", murmelt er, während er den Rucksack öffnet und eine, in durchsichtiges Papier gewickelte, blaue Tulpe hervorholt.

Soulpath - forever yours [LAUFEND]Where stories live. Discover now