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Wie in Trance legte ich den Brief zur Seite. Es war meine Schuld, es war meine Schuld dass Marie sich umgebracht hatte. Hätte ich die letzten Monate nicht immer nur nach mir gekuckt, würde sie jetzt vielleicht noch leben. Kein einziges Mal hatte ich mir gründlich Gedanken darüber gemacht wieso sie in der Schule öfters zusammengebrochen ist. Sie war immer für mich da gewesen und ich? Ich hatte nicht einmal bemerkt was mit meiner besten Freundin los ist. Sie ist doch mein zweites ich, mein ein und alles, meine bessere Hälfte. Es fühlte sich einfach so an als würde man mir mein Herz ausseinanderreißen.

Nun flossen die Tränen nur so aus mir heraus und ich brach auf meinem Teppich zusammen. Irgendwann spürte ich eine starke Hand auf meinem Rücken. Ich drehte mich um und sah meinen Papa, der auch schon ganz rote Augen hatte. Kein Wunder, schließlich gehörte Marie fast schon als Familienmitglied dazu.

"Deine Mutter hat gerade mit Maries Eltern telefoniert. Sie hatte Krebs...", ich presste meine Hände auf meine Ohren um nicht weiter die weinerliche Stimme meines Papas anhören zu müssen. Schließlich nahm er die Hand auf meinem Rücken weg und stellte mir etwas zu essen auf den Nachttisch und verschwand dann wieder. Ich rührte es jedoch nicht an.

Von Mittwoch bis Freitag ging ich nicht in die Schule. Mein Papa hatte mich entschuldigt und blieb ebenfalls bei mir zuhause damit ich nicht alleine war. Aber genau das wollte ich ja... ich wollte alleine sein. Ich konnte nicht einmal mehr mein eigenes Spiegelbild ertragen wie sollte ich dann auch noch die Gesselschaft anderer Menschen ertragen können. Vom Essen welches mir mein Dad täglich ins Zimmer stellte nahm ich nur einige Bissen und warf es ohne dass es jemand bemerkte in den Mülleimer.

Am Freitag war dann die Beerdigung. Ich hatte irgendein schwarzes Kleid an welches mir meine Mutter herausgelegt hatte. Egal wo ich hinschaute, alles einfach alles erinnerte mich an Marie. Menschen, Bäume auf denen wir in unserer Kindheit geklettert sind, Straßen wo wir früher mit den Nachbarskindern fangen gespielt haben. Alles, egal wo ich hinschaute all das erinnerte mich an Marie.

Auf der Beerdigung kamen auf uns sofort Maries Eltern zu, doch als sie mich etwas fragten schaute ich nur auf den Boden und ging einige Schritte weg.

Ich hasste Beerdigungen, doch ich hatte noch nie eine Beerdigung so sehr gehasst wie die von Marie. Mein Kleid kratzte unangenehm und meine Schwester Johanna die ich an der Hand hatte quengelte die ganze Zeit nur herum. Ich hätte auch eine Abschiedsrede für Marie schreiben können aber das wollte ich nicht. Unsere gemeinsamen Erinnerungen teilte ich mit keinem Anderen. Marie hätte das verstanden. Bevor der Sarg in die Erde glitt verabschiedete ich mich nocheinmal persönlich von ihr und beeilte mich dann aber vom Friedhof zu kommen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus.

Am Montag zwang mich meine Mutter wieder in die Schule zu gehen. Auch wenn es schwer ist muss das Leben weiter gehen, hatte sie mir gesagt. Doch ich wusste nicht wie es jemals wieder so werden würde wie früher.

Auf dem Schulhof versuchte ich die bemitleidenden Blicken der Schüler auszuweichen. Jetzt erst verstand ich Marie wirklich was sie gemeint hatte dass sie nicht bemitleidet werden möchte. Es war wirklich unerträglich.

Auf dem Schulflur begegnete ich dann meinem Freund wieder der mich ohne Worte sofort in die Arme schloss. Wiedereinmal flossen meine Tränen und sammelten sich auf dem Pullover von Hannes. Erst jetzt bemerkte ich Tim, Maries Freund der neben uns stand und uns beobachtete. Als ich ihn anschaute, schaute er sofort weg. Marie hatte in ihrem Brief irgendetwas geschrieben dass sie Streit mit Tim hatte, wahrscheinlich aber nur typische Beziehungsprobleme. Dachte ich damals zumindest.

Hannes drückte mir noch einmal einen Kuss auf den Mund und verschwand dann gemeinsam mit Tim im Klassenzimmer. Ich war nun alleine da Tim und Hannes nur in meine Parallelklasse gingen.

"Das wird schon wieder", klopften mir einige Mitschüler auf die Schulter als ich das Klassenzimmer betrat. Der Stuhl neben mir blieb leer und gedankenverloren kreiste ich Marie Kette auf dem Tisch hin und her bevor ich sie mir wieder zurück an den Hals machte. Die Lehrer ließen mich bis auf ihre bemitleidenden Blicke in Ruhe.

In der großen Pause stand ich dann ganz alleine neben dem Becker herum.

"Was ist eigentlich passiert?"

"Stimmt es dass Marie sich umgebracht hat?"

"Du tust mir echt leid"

Immerwieder kamen irgendwelche Schüler egal ob jüngere oder ältere an mir vorbei und sprachen mich auf Marie an. Marie und ich waren zwar nie wirklich beliebt auf der Schule gewesen aber jeder wusste dass wir unzertrennlich waren.

"Nichts und niemand kann uns trennen", hatte mir Marie mal gesagt und dabei gegrinst. Tja nichts außer der Tod.

Mein Blick fiel in die Ecke des Schulhofes wo sich einige ältere Jungs umher trieben. Es handelte sich um Thomas und seine Gang aus der Oberstufe. Jeder wusste dass sie Drogen vertickten aber keiner traute sich dagegen etwas zu sagen, wenn man keinen Ärger mit ihnen wollte ging man ihnen besser aus dem Weg.

Einer der Jungs schaute schon eine ganze Weile rüber und stuppste dann Thomas an und zeigte auf mich bis Thomas mich herwinkte. Was wollten die denn? Ich schaute weg bis plötzlich jemand den Arm um mich legte. Thomas.

"Na Kleine. Siehst ziemlich beschissen aus, das mit deiner Freundin tut mir echt leid", sagte er mit seiner kratzigen Stimme und ich musste schlucken. Er zog mich am Arm rüber zu seiner Gang.

"Dein Mitleid kannst du dir sparen", gab ich leise als Antwort. Der erste Satz den ich seit ein paar Tagen wieder aus meinem Mund bekam.

"Ich weiß wie du die fühlst. Als ich noch in der Grundschule war hatte sich mein Vater vor meinem Augen erschossen", erschrocken schaute ich ihn an. Dieses Gerücht wanderte schon mehrere Jahre auf der Schule herum aber dass es tatsächlich stimmte wusste ich nicht.

"Diesen unerträgliche Gefühl was dich innerlich fast auffrisst", noch immer hatte er seinen Arm um mich gelegt und schaute mich durch seine kalten Augen an. Ich musste kräftig schlucken. Er beschrieb meine Situation auf den Punkt genau.

"Ich kann dir helfen. Oder besser gesagt das kann dir helfen", er winkte mit seiner freien Hand seinem Kumpel zu der ihm ein kleines Tütchen Gras zuwarf.

"Nein, vergiss es das mach ich nicht", heftig schüttelte ich den Kopf worauf Thomas die Augenbrauen hochzog und seine Kumpels lachten.

"Nur einmal probieren, das schadet nicht und ich versprech dir du wirst dabei für einen Moment deine ganze Trauer vergessen", grinste Thomas und kam mir ziemlich nahe sodass ich seine gelben Zähne sehen konnte.

"Du bekommst es sogar umsonst", hing er noch daran und ich war hin und hergerissen. Ich würde tatsächlich den Verlust von Marie für einen Moment vergessen, das wollte ich doch. Aber immer und immer wieder hörte ich die Stimmen in meinem Kopf. "Drogen sind schlecht. Das macht alles nur noch schlimmer". Ich schluckte kräftig, na scheiß drauf von einmal werde ich schon nicht gleich abhängig. Ich riss das Tütchen aus Thomas Hand worauf er lachte.

"Na geht doch", meinte er und ließ mich endlich los.
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Schönen abend wünsch ich euch♡

EXIT (Dat Adam)Where stories live. Discover now