Kapitel 76

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Als Joy das Krankenhaus verließ und Bryan sie nach draußen schob, sah sie bereits einige Köpfe recken. Kurz darauf folgten die ersten Ausrufe. Von allen Seiten hörte Joy ihren Namen. Dann, als die Menschen sich sicher waren, dass es tatsächlich sie war, die in einem Rollstuhl vor ihren Augen aufgetaucht war, wurde es schlagartig still.

Joys Herz raste. Eine ganze Weile sah sie sich einfach nur um. Sie spürte Bryans Hand auf ihrer rechten Schulter und ihr Dad hielt weiterhin ihre linke Hand gedrückt. Da entdeckte sie die riesige Masse an Kerzen, Blumensträußen und Blumengestecken, die an der Wand links von ihr ausgebreitet und aufgehäuft waren. Sofort kamen ihr die Tränen. Sie war völlig überwältigt von der Anteilnahme der Menschen. War das alles für sie?

„Kannst du mich da rüberschieben?", fragte sie Bryan leise und zeigte mit ihrem Gipsarm zur Wand.

Bryan nickte und erfüllte ihr den Wunsch. Alle Blicke folgten ihr. Vor dem Meer aus Blumen und Kerzen blieb Bryan stehen und Joy starrte es eine ganze Weile lang einfach nur an. Es waren auch Fotos und Grußkarten dabei. Hunderte!

„Kannst... kannst du mir eine geben?", fragte Joy ihren Dad. Sie brachte kaum ein Wort heraus, so erschlagen war sie vor Rührung. Ihr Dad gab ihr zwei Karten in die Hand und Joy schlug sie auf. Mit Tränen in den Augen las sie sie durch.

„Liebe Joy,
ich heiße Rebecca. Ich bin 12 Jahre alt und du bist mein größtes Idol. Du bist so mutig (und so hübsch). Ich wäre gerne so mutig wie du. Ich hoffe, du wirst ganz schnell wieder gesund. Ich finde es so schrecklich, was Black Soul und Nicholas Chandler dir angetan haben. Aber du wirst immer meine Heldin bleiben. Bleib so, wie du bist. Ich liebe dich, Joy!
Gute Besserung und liebe Grüße,
deine Rebecca"

Mit einem Kloß im Hals las sie die zweite Karte.

Liebe Joy,
es tut mir unendlich leid, was dir zugestoßen ist. Kein Mensch sollte so etwas erleben. Dir wurde großes Unrecht getan. Ich finde keine Worte dafür. Aber deine Stärke hat dich überleben lassen. Du bist eine bewundernswerte junge Frau, Joy. Viele Mädchen und junge Frauen können von dir lernen. Ich wünsche dir, dass du gut über das, was dir geschehen ist, hinwegkommst und gestärkt daraus hervorgehst. Du hast nur das Beste im Leben verdient!
Mit freundlichen Grüßen,
Karen Blyde"

Joy war sprachlos. Sie schluckte und atmete gegen die Tränen der Rührung an. Immer noch war es mucksmäuschenstill hinter ihr – mit Ausnahme einiger Kamerageräusche. Sie war sich sicher, dass die Bilder morgen um die Welt gehen würden, wie sie im Rollstuhl, mit dickem Kopfverband, Gips und den zwei wichtigsten Männern an ihrer Seite vor dem Meer der Anteilnahme stand.

Joy atmete ein paarmal tief durch, um sich zu sammeln. Dann sah sie Bryan mit feuchten Augen an.

„Dreh mich um und bring mich näher zu ihnen."

Bryan nickte. Er schien ebenfalls schwer um Fassung zu ringen.

Joy legte die zwei Karten in ihren Schoß und gab ihre Hand wieder ihrem Dad. Gemeinsam gingen sie auf die Menschenmenge zu, wo Joy auch die herbestellten Polizisten entdeckte, die zu beiden Seiten standen. Alle Augen waren auf Joy gerichtet. Cynthia, ihre heutige Krankenschwester, hatte ihr extra noch die Haare gerichtet, die wild unter ihrem Kopfverband hervorgewuchert waren. Dafür war Joy jetzt wirklich dankbar.

Nervös atmete sie noch einmal tief durch.

„Hallo", krächzte sie und räusperte sich. „Es tut mir leid, dass ich nicht allzu laut sprechen kann. Ich hoffe, es verstehen mich alle einigermaßen."

Sie warf einen Blick in die Runde, wo einige Menschen nickten, andere konzentriert versuchten, sie zu verstehen.

„Ich, ähm... also ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie alle hier sind. Diese Kerzen und Blumen und Karten... das berührt mich zutiefst. Es erstaunt mich zu sehen, wie sehr meine Geschichte die Menschen bewegt. Ich, ähm..." Sie hielt einen Moment inne, um ihre Emotionen herunterzuschlucken. „Ich habe... ich habe ein paar grausame Dinge erlebt. Die meiste Zeit habe ich nicht daran geglaubt, das zu überleben. Aber meine Hoffnung hat mich vor dem Tod bewahrt. Ich kenne meinen Dad und ich wusste, dass er nach mir suchen würde."

Im Strudel der Zeit - Auf Leben und TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt