Kias Geheimnis

5 1 1
                                    

Leider war die Pause vorbei, bevor wir unser Zimmer erreichten. Daher musste ich vorher noch Eine Stunde Religion und eine Stunde Klassenrat über mich ergehen lassen. Daraufhin entschieden wir uns dazu, nach der Schule zu reden. So hatten wir die nötige Ruhe, um über alles zu sprechen - was auch immer es war.

Ohne etwas zu sagen, gingen Kia und ich in unser Zimmer. Als wir beide drinnen waren, schloss ich die Tür hinter uns.

Wir setzten uns auf Kias Bett. Kia wirkte nervös. Abwartend beobachtete ich sie. Meine Schwester atmete tief durch und schien sich innerlich zu sammeln. Ich ließ sie gewähren, obwohl ich die Spannung kaum aushalten konnte. Nun würde ich endlich erfahren, was mit Kia los war.

Nach einer kurzen Weile begann sie zu erzählen: "Ich habe vor ein paar Jahren ebenfalls versucht, unsere Eltern zu finden. Damals war ich 10 Jahre alt. Ich wollte sie kennenlernen. Chiara habe ich damals nicht gefunden, aber dafür jemand anderen." Kia machte eine kleine Pause und strich sich langsam mit der Hand durch die Haare. "Ich habe damals unseren Vater gefunden."

"Was? Warum hast du mir das nicht erzählt?", fragte ich schockiert.

Kia strich sich erneut mit der Hand durch die Haare. In ihren Augen bemerkte ich Tränen. "Es fällt mir bis heute schwer, darüber zu sprechen. Sogar, wenn ich nur daran erinnern werde." Jetzt begann Kia, richtig heftig zu weinen. Sofort umarmte ich meine Schwester und ließ sie erst wieder los, nachdem sie sich beruhigt hatte.

"Was ist damals passiert?", fragte ich daraufhin vorsichtig.

Kia tat mir zwar leid und ich wollte sie nicht an etwas schreckliches erinnern, doch ich brauchte endlich Klarheit. Ich hielt die ganze Geheimniskrämerei einfach nicht mehr aus. Besonders jetzt nicht, wo ich wusste, dass es um unseren leiblichen Vater ging.

Versteht mich nicht falsch. Ich wollte diesen Typen nicht kennenlernen oder so. Er hatte mich und meine Schwester immerhin vor unserer Geburt verlassen.

Irgendwie verstärkte dieses Wissen aber trotzdem den Wunsch nach der Wahrheit.

Nun begann Kia, zu erzählten: "Vincent wohnte in der Nähe von Hamburg. Ich habe ihn damals konntaktiert und wir haben uns getroffen. Er war sehr nett zu mir und hat mir viel über Chiara erzählt. Und auch über sich. Er hat sich auch wirklich für mich interessiert. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis und auch meine Eltern haben ihn gemocht." Kia versuchte zu lächeln, doch sie sah so aus, als ob sie gleich wieder weinen würde. Ich nahm ihre Hand. Wir machten eine kurze Pause, dann erzählte Kia weiter: "Irgendwann hat meine Mutter einen Anruf von Isabella, seiner damaligen Freundin, bekommen. Sie wusste von mir und wir hatten auch ein gutes Verhältnis. Jedenfalls hat sie uns erzählt, dass Vincent im Krankenhaus ist. Ein betrunkener Autofahrer ist volle Kanne auf den Gehweg gefahren und Vincent war leider zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir sind natürlich sofort hingefahren, aber da war es schon zu spät."

"Ist er...ist er tot?", unterbrach ich meine Schwester. Unter Tränen nickte sie.

"Nach all dem konnte ich mich nicht mehr überwinden, Chiara zu kontaktieren. Nicht weil ich Angst hatte, sie auch zu verlieren. Das ganze erinnert mich einfach wieder an damals. Das ist nicht Chiaras schuld, aber sie kannte ihn! Die beiden waren als Teenager zusammen. Sie ist von ihm Schwanger geworden. Vincent hat so oft von ihr geredet. Verstehst du, Lia? Die Begegnung mit Chiara hat das alles wieder hochgeholt."

Da Kia wieder weinen musste, nahm ich sie wieder in den Arm. Kurz darauf musste ich selbst weinen. Ich hatte ihn verurteilt, ohne zu wissen, dass er tot war. Er hatte seine Taten offenbar bereut, sonst hätte er wohl kaum Kontakt zu Kia gehabt. Erst nach einer halben Ewigkeit hörten wir beide auf, zu weinen.

Daraufhin fragte ich sie: "Was ist eigentlich mit mir? Ich meine, wir sind Zwillinge. Hat das keine derartigen Gefühle in dir ausgelöst, als wir voneinander erfahren haben?"

"Doch, am Anfang schon, aber es war nie so heftig, wie bei Chiara. Vielleicht lag es ja daran, dass wir uns schon so gut kannten. Oder daran, dass du Vincent genauso wenig gekannt hast, wie er dich. Keine Ahnung. Außerdem wollte ich dich nicht alleine lassen. Mir war schon klar, was kommen würde, bevor wir damals ins Haus gegangen sind. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass Chiara dich behalten hätte, während sie mich weggibt und extrem offensichtlich, dass du keine Ahnung hattest, dass du adoptiert bist. Ich habe es zumindest sehr schnell gemerkt. Darum bin ich bei dir geblieben. Ich habe es nie bereut. Irgendwann sind diese alten Gefühle dann ganz verschwunden."

Verblüfft starrte ich meine Schwester an, nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. Kia nahm meine Hand. Schweigend saßen wir Hand in Hand beieinander.

"Ich bin so froh, dass wir zueinander gefunden haben.", sagte ich nach einer Weile.

"Ich auch.", erwiderte Kia. "Wir gehören einfach zusammen."

Die Brieffreundin Where stories live. Discover now