Kapitel 8

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NERO

Sarah zwang mich am nächsten Morgen bereits gegen acht Uhr früh aufzustehen. Normalerweise hatte ich nichts dagegen, früh wach zu sein, aber wenn ich im Urlaub war, schlief ich gerne aus und gerade nach dem Flug gestern war ich immer noch müde und wollte eigentlich nicht so früh aufstehen. Aber Sarah bestand darauf und wenn Sarah etwas wollte, dann gab es nichts und niemanden, der sie davon abhalten konnte. Also saßen wir um kurz nach acht wieder im Auto, dieses Mal in Richtung Innsbruck. Ich bat Sarah eindringlich, die andere Richtung einzuschlagen, aber sie versicherte mir immer wieder, dass sie nicht nach Italien sondern nach Zell am See fahren wollte. Ich wusste nicht, ob ich ihr das abkaufen sollte oder nicht, aber sie ließ sich ohnehin nicht umstimmen, also blieb mir keine andere Wahl, als auf dem Beifahrersitz zu sitzen und mir die Gegend vor dem Fenster anzusehen. Es war bergig draußen, aber nicht so sehr wie zuhause in Südtirol. Die Berge waren kleiner, beinahe schon niedlich und für einen kurzen Moment hatte ich tatsächlich Sehnsucht nach meiner Heimat. Ich holte mein Handy hervor. Fin hatte mir mal wieder geschrieben. Als ich die Berge so ansah und dann auf mein Handy blickte, hatte ich das Bedürfnis ihr zu schreiben, ihr zu sagen, dass ich in der Nähe war und an sie denken musste. Dennoch konnte ich es nicht übers Herz bringen und sperrte mein Handy wieder.
"Warum machen wir einen Roadtrip, wenn du genau weißt, dass ich die meiste Zeit sowieso verschlafen werde?", fragte ich Sarah stattdessen.
"Für uns ist nicht die Straße das Ziel, sondern Zell am See und was uns danach sonst noch so einfällt", antwortete sie mir vage. "Schlaf ruhig, hier sieht sowieso alles gleich aus. Ich wecke dich schon, wenn wir da sind, mach dir keine Sorgen."
"Mach ich nicht, ich verstehe nur den Sinn dieses Urlaubs nicht so ganz", erwiderte ich, lehnte meinen Kopf aber bereits gegen das Fenster.
"Wirst du dann sehen", sagte sie nur knapp, ich brummte nur.

Ich war tatsächlich eingeschlafen. Wie war es eigentlich möglich, dass ich ständig einschlief?! Ich war echt ein Baby, Sarah hatte recht! Ich hatte meine Augen immer noch geschlossen, weil ich noch zu müde von meinem Nickerchen war, aber ich spürte, dass wir uns nicht mehr bewegten.
"Hey, Nero, steh auf. Wir sind da." Sarah rüttelte mich sanft an der Schulter, aber ich brummte genervt und drehte mich weg.
"Noch fünf Minuten", murmelte ich knapp.
"Nein, keine fünf Minuten mehr. Sonst muss ich dich im Auto einsperren, also steh auf, du Faulpelz!", fuhr sie mich an und schlug mir gegen die Schulter, bevor ich hörte, wie die Tür aufging und Sarah austieg. Ich knurrte gereizt und öffnete ebenfalls die Tür, bevor ich ausstieg und erst dann so wirklich die Augen öffnete. Und das, was ich sah, ließ mich erstarren. Wir waren in Sterzing. Auf dem Parkplatz vor dem Hotel meiner Familie. Mein erster Reflex war, Sarah anzubrüllen und zurück ins Auto zu steigen, aber ich war mir sicher, dass das nichts bringen würde. Das würde zu lange dauern, ich musste schneller hier weg, und das ging nur, wenn ich rannte. Ich wollte mich gerade umdrehen und weglaufen, als Sarah mich am Arm packte.
"Denk nicht mal dran, Nero!", fuhr sie mich wütend an und ihr Blick ließ keinen Widerspruch zu. Ich versuchte es trotzdem.
"Sarah, ich wollte das nicht! War diese ganze Scheiße nur ein Trick, um mich zurück nach Hause zu bringen?!", schrie ich sie wütend an. "Du bist das Letzte, wirklich!"
"Jetzt halt aber mal die Luft an! Das hier ist deine Familie und die leidet! Genauso wie du! Also gib dir einen Ruck und rede mit ihnen!", schrie sie wütend zurück, aber ich riss mich von ihr los.
"Sarah, mir reicht es mit dir! Ich habe die Nase voll! Ich verschwinde, du hast sie nicht mehr alle! Geh du mit meiner Familie reden, wenn dir so viel daran liegt, aber ich kann es nicht!", brüllte ich sie an und drehte mich auf dem Absatz um, um wegzulaufen. Doch nur wenige Meter weiter wurde ich gestoppt und von Sarah zu Boden geworfen. Eine kurze Weile lang rangen wir wie kleine Schuljungs auf dem kalten Beton, bevor Sarah die Überhand gewann, sich auf mich setzte und dann meine Arme fest auf den Boden presste. Egal, wie sehr ich versuchte, mich zu wehren, Sarah war stärker als ich und drückte mich immer wieder zurück auf den Boden.
"Jetzt halt aber mal die Luft an, klar?! Das hier ist deine verdammte Familie, die sich Sorgen um dich macht! Mir ist es vollkommen egal, was gerade in deinem verkorksten Schädel abgeht, aber niemand gibt dir die Schuld an Jans Tod und das wird auch nie jemand tun! Also reiß dich verdammt noch mal zusammen, bevor ich dich verprügeln muss! Heilige Scheiße, muss man mit dir immer diskutieren?!", schrie sie sauer.
"Sarah, Fin hat Besseres verdient! Ich habe ihr Leben zerstört! Ich habe das Leben von jedem hier zerstört von der Sekunde an, als ich hier angekommen bin!", konterte ich ebenso wütend und wollte mich wieder losreißen, aber Sarah war wesentlich stärker als ich und schien keine Probleme damit zu haben, mich am Boden festzuhalten. Wie war dieses zierliche Mädchen nur so stark geworden?! Das war doch nicht mehr normal!
"Ja, du hast das Leben von jedem hier zerstört, aber erst, als du einfach abgehauen bist! Also mach deinen Fehler wieder gut! Dazu ist es noch nicht zu spät! Ich konnte es nicht und beiße mir jeden Tag dafür in den Arsch! Also krieg deinen faulen Arsch hoch, lass dir Eier wachsen und hör auf, hier so einen Kindergarten zu veranstalten! Du wirst jetzt in dieses Hotel gehen und deine Familie konfrontieren, sonst prügele ich dich bewusstlos und zerre dich da rein, ist das klar?!", zischte sie mir wütend zu. Ich wollte etwas erwidern, doch schluckte die Beleidigung dann herunter. Es hatte keinen Sinn, dieses verrückte Huhn machte keine Scherze, das wusste ich. Ich wusste zwar nicht, wann ich Sarah jemals so wütend erlebt hatte, aber ich wollte definitiv nicht austesten, wie weit ich noch gehen konnte. Ich war schließlich jetzt schon hart an der Grenze. Also seufzte und nickte ich.
"Na gut", willigte ich ein. "Ich gehe rein, aber du hältst dich zurück, ist das klar?! Und danach gehen wir sofort wieder! Sonst prügele ICH dich windelweich."

Südtiroler Problem - Das Wiedersehen Where stories live. Discover now