Der neue Eulenmann - Kapitel 49

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Bereits als Adlereule noch sehr viel jünger war, hatte er sich immer wieder die kleinen Jungs der Stachelschweine angesehen und sich gefragt, wer eines Tages wohl sein Nachfolger werden würde. Als Rabe und Stab noch klein waren, hatte er große Hoffnungen in sie gesetzt. Aber als Stab dann seine Stimme verlor, konnte er kein Eulenmann mehr werden. Rabe war schon immer ein außergewöhnlicher Junge. Aber er war zu impulsiv und zu eigensinnig.

Ging etwas nicht nach seinem Kopf, dann konnte es passieren, dass er einen Wutanfall bekam. Dann schlug er alles kurz und klein, was sich in seiner Nähe befand. Das besserte sich zwar, als er älter wurde, doch ein guter Eulenmann wäre wohl nie aus Rabe geworden. Der eignete sich viel besser zum Kriegshäuptling.

Deshalb hatte Adlereule Bärentatze zu seinem Trommelschläger und Sprachrohr gemacht und ihm über viele große Sonnen hinweg alles beigebracht, was er über die Heilung von Kranken wusste. Er hatte ihm gezeigt, wie schwere Verletzungen behandelt wurden, wie man Knochenbrüche richtete und wie man sie schiente.

In seiner gesamten Kindheit und Jugend hatte Bärentatze alles Wissen in sich aufgenommen und während Rabe und Stab auf ihrer großen Reise im Süden waren, wollte er seine Ausbildung eigentlich abschließen.

Alles, was ihm dafür noch fehlte, war eine Vision. Diese Vision konnte er nur in der Einsamkeit, ohne Störung durch andere Menschen erlangen. Deshalb hatte er sich ganz allein in das Grasland begeben und sich dort an die Ahnen gewandt. Denn erst nach dem die Ahnen ihm eine Vision gesandt hatten, durfte er sich Eulenmann nennen. 

Für diese Vision hatte er mit Absicht viele Tage gehungert, die Geister angerufen, viel getanzt, gesungen und immer wieder winzig kleine Stücke vom heiligen Kaktus gegessen. Der hatte ihm wilde Träume geschenkt, aber keine Vision.

Nach mehreren runden Monden war Bärentatze fast verhungert und vollkommen niedergeschlagen in das Dorf der Stachelschweine zurückgekehrt. Dort musste er Adlereule berichten, dass er nicht in der Lage war, eine Vision zu empfangen. Der hatte damals gelächelt und versucht, ihn wieder aufzurichten. Er hatte ihm gesagt, dass er Geduld haben müsse. Irgendwann würde die Vision ihn von ganz allein aufsuchen.

Lange hatte Bärentatze auf diese Vision gewartet, aber es war nichts passiert. Inzwischen lebte er schon seit einiger Zeit nicht mehr bei den Stachelschweinen. Er war zu einem Kohmát geworden und hatte schon geglaubt, dass er nie eine Vision haben würde. Doch am Ende hatte Adlereule recht behalten, denn genau wie er gesagt hatte, war es gekommen. Die Vision hatte ihn gefunden, ohne dass er danach gesucht hatte.

Als Bärentatze zum ersten Mal seinem neuen Pferd gegenüber stand, war er ganz allein. Nur zwei Jungs bewachten die kleine Herde, aber die standen ein gutes Stück abseits.

Niemand war bei ihm, weil er diesen Moment genießen und ganz für sich haben wollte. Die Erinnerung daran, wie er sein Pferd in Besitz nahm, wie es ihn in diesem Augenblick anschaute, wie sich das Fell anfühlte, wie es roch, wollte er ganz tief in seinem Gedächtnis abspeichern und sich sein ganzes Leben daran erinnern.

Deshalb war er sehr früh, noch lange vor Sonnenaufgang, zu den Pferden gegangen und hatte in der kleinen Herde nach dem großen Braunen gesucht. Kaum hatte er ihn gefunden und seinen warmen Atem in seinem Gesicht gespürt, drehte sich plötzlich alles um ihn herum. Nichts blieb an seinem Platz. Alles verschwamm vor seinen Augen.

Er merkte nicht, wie er sich an der Mähne seines Pferdes festhalten musste und wie der große Braune ganz still stand, als wüsste er, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Sein Herz schlug wie wild, große Angst hatte ihn gepackt. Er hatte den Boden unter den Füßen verloren, es fühlte sich an, als würde er aus großer Höhe in eine unendliche Tiefe hinab fallen.

Doch dann beruhigte sich sein Herzschlag. Er spürte festen Boden unter den Füßen und eine tiefe Verbindung zu allem, was ihn umgab. Menschen, Tiere, Pflanzen, Wasser, Erde, Stein und Feuer schienen zu einer Einheit zu verschmelzen. Er hatte die Welt der Geister betreten und plötzlich stand ihm alles klar vor Augen.

Wie der Große Geist den Indianern das Pferd schenkteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt