Abgeschlossen

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Weiche Knie, innere Unruhe, tachykard – diese Symptome treffen gerade alle auf mich zu, während ich die Stufen zum Gerichtsgebäude hinaufsteige. Der einzige Grund, warum ich nicht noch deutlichere Anzeichen von Panik zeige, sind meine Kollegen und allen voran Thomas, die den gleichen Weg bestreiten müssen. Als wir durch den Eingang treten, müssen wir ähnlich wie am Flughafen unsere Taschen ablegen, die separat kontrolliert werden. Nachdem wir auch das erledigt haben, begeben wir uns zum Gerichtssaal. Es handelt sich um ein großes Zimmer des Gebäudes, wo die Richter und Schreiber an der Stirnseite Platz nehmen und die Kläger und Beklagten im 90 Grad Winkel zueinander, sodass sie sich gegenübersitzen. Auf der anderen Stirnseite sind Stuhlreihen aufgestellt, wo Zuschauer Platz nehmen können. Bereits beim Betreten ist die Presse anwesend, was mir erneut einen Schauer über den Rücken jagt. So schnell wie möglich begebe ich mich auf zu unserem Anwalt, der uns freundlich empfängt und sehr zuversichtlich gegenüber dem Ausgang der Verhandlung ist.

Nach der im Gericht üblichen Verhandlungseröffnung wird die Klage verlesen, wozu wir als Beklagte Stellung beziehen. Einzeln werden wir aufgefordert, den Einsatz aus unserer Sicht nochmal zu schildern und unsere Entscheidungen zu begründen. Dabei dürfen die Richter als auch der gegnerische Anwalt Fragen stellen.

Ich bin als NEF-Fahrerin die Letzte, die aussagt und berichte ausführlich von der Auffindesituation sowie den Wiederbelebungsmaßnahmen bei Melanie Wilhelmi. „Wir haben alles dafür getan, das Leben der Frau zu retten, sodass die Unfallursache nicht primär geklärt wurde. Selbst im Anschluss, als die Patientin kreislaufstabil war, hat eine Zeugin lediglich berichtet, die Frau wäre schreiend ins Wasser gerannt. Erst als Herr Wilhelmi am Unfallort antraf, erfuhren wir, dass sein Sohn Emil ebenfalls vor Ort sein müsste. Sofort habe ich die Feuerwehr informiert, die den Jungen schließlich im Wasser fand."

„Sie als NEF-Fahrerin sind verantwortlich für den Überblick, korrekt?", hakt der gegnerische Anwalt, Herr Platonius nach.

„Auch. In erster Linie ist es meine Aufgabe, dem Notarzt zuzuarbeiten. Dazu gehört vor allem die Assistenz bei der Patientenversorgung zum Beispiel in Hinblick auf die Medikamentengabe, aber auch das Einholen von wichtigen Informationen, die für die lebensrettenden Maßnahmen wichtig sind. Sofern, wie in diesem Fall, die Patientin nicht ansprechbar ist, befrage ich Angehörige, Bekannte oder Freunde zum Beispiel nach Allergien und Vorerkrankungen, was im SAMPLER-Schema vorgesehen ist."

„Laut meinen Unterlagen sind Sie vor der Bergung von Frau Wilhelmi eingetroffen. Wäre es nicht bereits zu diesem Zeitpunkt Ihre Pflicht gewesen, sich Informationen einzuholen. Schließlich spielt die Zeit, der eine Person unter Wasser ist, eine große Rolle."

„Das ist richtig und das haben wir auch versucht. Vor Ort gab es aber augenscheinlich niemanden, der die Patientin begleitet hat. Beim Eintreffen herrscht zunächst einmal Chaos. Wir haben die Melderin gesucht und eine Gruppe Touristen drängte sich immer näher an das Spektakel heran, aber wir haben von niemandem Information über den Unfallhergang erhalten, weshalb wir uns ans Ufer begaben, wo die Kollegen der Feuerwehr uns kurz darauf die leblose Person übergaben. Wie gesagt, erst im Nachhinein habe ich mit der Melderin sprechen können, die die Ursache aber auch nicht kannte. Sie teilte mir mit, wie lange Frau Wilhelmi ungefähr sich unter Wasser befand. Die Polizei hat die Melderin gefunden."

„Die Melderin gab an, dass die Frau augenscheinlich nicht schwimmen konnte. Haben Sie sich nicht gefragt, warum Frau Wilhelmi trotzdem schreiend ins Wasser lief?"

„Natürlich, aber dafür gibt es viele Ursachen. Menschen laufen zum Beispiel auch ins Wasser, wenn sie von Wespen attackiert werden. Andere wollen sich eigentlich nur dort abkühlen, wo sie stehen können, verlieren aber den Halt, weil die Abbruchkanten nicht zu sehen sind. Wir wussten nicht, warum die Frau ins Wasser ist und wir konnten daher auch nicht ahnen, dass ihr Sohn im Wasser ist." Damit greife ich die Beispiele auf, die Thomas mir auf diese Frage geantwortet hat. „Für mich war es wichtig, unserem Notarzt, Herrn Dreier, die neusten Erkenntnisse bezüglich der Dauer unter Wasser von Frau Wilhelmi mitzuteilen, als wahllos Vermutungen aufzustellen. Außerdem hatte ich kaum Herrn Dreier informiert, da kam auch schon Herr Wilhelmi und hat uns die Information bezüglich seines Sohnes mitgeteilt."

112 - Das TeamWhere stories live. Discover now