︶꒦꒷𝕂𝔸ℙ𝕀𝕋𝔼𝕃𝟠꒷꒦︶

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Zwei weitere Schultage hatte ich überstanden, jetzt war Freitag. Für mich war Zeit immer relativ gewesen, wir hielten uns nicht so zwanghaft an Stunden und Minuten wie die Menschen – doch zum ersten Mal freute ich mich auf einen bestimmten Tag, eine bestimmte Uhrzeit. Freitag, 13 Uhr. Was simultan Wochenende bedeutete, eine Pause. Ich hätte niemals gedacht, dass ich so unbedingt eine Pause brauchen würde. Karis hatte mich zwar die weiteren Tage mehr oder weniger in Ruhe gelassen, allerdings hatten die anderen die Aktion im Schulflur wohl als so etwas wie einen Startschuss gesehen – ich hatte rohe Eier auf meinen Stühlen gefunden, Kaugummi in meinem Schließfach und überall, wo ich hinging, wurde ich mit Papierkügelchen beworfen. Ich war mehr als nur ein Außenseiter. Roisin hatte sich mit mir in die Abschusszone begeben – wieso sie sich freiwillig so etwas antat, verstand ich noch immer nicht. Sie meinte zwar, dass sie es nicht ertragen könnte, wenn jemand Neues allein sein musste, aber es war doch sehr viel Sturheit dabei.

Wieder einmal saß ich mit Roisin in unserem Busch, der so etwas wie unser Platz geworden war. Unter anderem auch, weil sich niemand die Mühe machte, zwischen den Ästen in die innere Höhle zu klettern – vielleicht, weil niemand wusste, dass diese existierte. Die Rothaarige hatte sich gegen meine Schulter gelehnt und blätterte gerade gedankenverloren in einem Magazin, während ich bereits die Hausaufgaben erledigte, die wir aufbekommen hatten – so richtig strebermäßig halt. Ich hatte ein paar Pläne für das Wochenende und wollte nicht noch an Schulaufgaben denken müssen. Lowen hatte mir versprochen, dass wir trainieren würden und Nya und ich wollten einen kleinen Spaziergang unternehmen. Außerdem wollte ich mit Sein kochen, ihn unterstützen und mich mehr ans Essen gewöhnen. Die anderen hatten mich bereits als schwach abgestempelt und ich wollte mir selbst beweisen, dass sie falsch lagen. Mein heimliches Ziel war es, dass ich die Älteste stolz machte und mich am besten einfügte. Und dafür musste ich wohl hart arbeiten, denn dies war sicherlich keine leichte Aufgabe. Vor allem, weil es eine Wanderung am Spitzengrat war - mach genug, um dich einzugliedern, aber mach zu viel und du bist ein Verräter. Das letzte, was ich noch brauchen konnte war es, meinem Stamm verstoßen zu werden. So etwas war allerdings seit vielen hundert Vollmonden nicht mehr vorgekommen. Wir brauchten jeden einzelnen von uns um zu überleben. Jede einzelne unserer Seelen und Präsenz war nötig. Auch meine.

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Der Schulbus lud uns wie gewohnt an der Haltestelle im Nirgendwo raus. Unsere Haltestelle. Wenn sie zuvor schon existiert hatte, war es mir ein Rätsel, wofür. Hier war rein gar nichts, außer der kleinen Hütte am See, in welcher wir nun hausten. Natürlich hatte sie bereits existiert, aber sie war so heruntergekommen gewesen, dass sich wohl kaum jemand um sie gekümmert hatte. Unser Glück; kein Besitzer kam an und verjagte uns wieder. Niemand wusste, dass wir hier wohnten und zugleich konnten es alle wissen, die mit einem Bus oder Auto auf der Straße fuhren. Unsere Hütte war zwar weiter weg, aber noch erkennbar.

Der Bus fuhr weiter, ohne dass uns noch jemand nachsah. Außer Roisin, die wild winkend hinter dem Fenster erkennbar war. Eigentlich hatte sie gewollt, dass wir das Wochenende miteinander verbrachten, aber ich hatte sie erfolgreich abgewimmelt. Zuerst musste ich mich an die Menschen gewöhnen, dann war ich vielleicht bereit für freundschaftliche Aktivitäten.

Während Karis stur vor uns lief, Jui und Cecia sich angeregt unterhielten, trottete ich gedankenverloren hinter ihnen her. Ich stolperte über die Steine, die auf dem Feld lagen und strich mit meinen Fingern durch den weichen Stoff der Schuluniform, den ich nicht erwarten konnte loszuwerden. Ihn gegen den sanften Leinenstoff einzutauschen, der besser zu meiner Haut und meiner Art passte. Jeglichen Gedanken an die Schule verbannte ich aus meinem Kopf, wollte mich komplett auf dieses Wochenende, mich und die, die so waren wie ich, konzentrieren. Und das tat ich auch gleich - indem Sein und ich mehr oder weniger gekonnt inzwischen den Fisch anbrieten, wobei immer einer von uns fluchend zurücksprang, weil ein heißer Öltropfen unsere empfindliche Haut erwischt hatte. Auch die Messer waren uns ungewohnt, wir benutzten andere Werkzeuge unter See. Allerdings musste ich zugeben, dass alles einen Sinn machte. Dennoch fand ich es enorm anstrengend und nervig, jeden Tag eine Mahlzeit zubereiten zu müssen. Oder mehrmals, wenn ich sah, wie viel Roisin ab und zu in sich hineinstopfte. Bei dem Gedanken an sie musste ich einfach lächeln. Zwar hatte ich mich jetzt schon komplett ins Aus geschossen, aber ich hatte eine Freundin. Eine, die nicht meine Schwester oder mein Bruder war. Wir waren nicht so auf Freundschaften aus - jeder kannte jeder und eigentlich sollte auch jeder jeden lieben. Immerhin waren wir eine Gemeinschaft. Aber genauso wie Nya und ich schon immer mehr zusammen gemacht hatten, Jui und Cecia, bildeten sich dennoch Freundschaften. Jeder hatte nun mal seine Favoriten, auch wir.

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Während Cecia, Jui und Karis sich – wenn auch gezwungen – an die Hausaufgaben setzten, verließen Nya und ich die Hütte. Unsere weißen Leinenkleider wehten im Wind, im Einklang mit unseren hellen Haaren und der fahlen Haut. Ich schloss meine Augen und genoss die Brise des Sees, die mich kühl umschlang, in sich gefangen nahm und zu ihr machte. Meine Zehenspitzen bohrten sich in den Sand und kurz schlang ich meine Arme um meinen Körper, bis Nya mich weiterzog. Wir sprachen über alles, was die letzte Woche passiert war, über das, was wir noch vorhatten. Es tat gut, sich alles von der Seele zu reden und dabei so nahe am Wasser zu sein. So nahe zuhause zu sein. Dabei traute ich mich nicht einmal, durch die Wellen zu laufen, aus Angst, dass ich es sonst nie wieder ans Land schaffen würde.

„Weißt du", Nyas Stimme ging im Wind beinahe unter, „Ich glaube, mir könnte das hier gefallen." Meine hellen Augen fanden sie sofort. „Die Menschen hier, sie leben irgendwie so anders. Es geht ihnen wirklich darum, ein gutes Leben zu führen, für sich und für niemanden anders." Ich war beinahe entsetzt. „Nya...", ich streckte meine Hand nach ihr aus, hielt sie am Arm fest. „So etwas darfst du nicht denken- " Ari hatte uns beigebracht, dass man nicht nur an sich denken durfte. Ein einzelner war nichts ohne seinen Stamm. Wir brauchten einander, um zu überleben. Wir waren eine Einheit. Auch Nya blieb jetzt stehen, erwiderte meine Geste und legte ihre Hand auf meine Schulter. „Niamh- Was, wenn das alles eine Lüge ist? Was, wenn wir viel mehr erreichen könnten, als nur dafür zu sorgen, dass unser Stamm überlebt? Wenn die Welt da draußen viel größer ist, als wir es uns jemals vorstellen könnten? Andere Seen, die viel schöner sind als dieser... Niamh, es gibt Meere, Weltmeere!" Ein beklemmendes Gefühl durchfuhr mich. Die kühle Brise, die ich vorhin noch genossen hatte, ließ mich nun erzittern. Was hatte meine Schwester am College gesehen, dass sie innerhalb einer Woche unsere Vorsätze einfach so fallen ließ? Und was brachte sie dazu, dies mir genau hier, so nah am Wasser mitzuteilen, wo wir doch nicht wissen konnte, ob Elax nicht vielleicht lauschte. Ob es vielleicht nicht die Älteste selbst war, die irgendwo in der Nähe war und uns überwachte. Auch wenn ich es mir nicht vorstellen konnte, beschlich mich dennoch ein unangenehmes Gefühl. Stur schüttelte ich meinen Kopf. „Vielleicht hast du die Erfahrung gemacht, dass wir und die Menschen doch nicht so anders sind.. Aber Nya, wir sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht, wir können co-existieren, aber wir sind nicht sie und sie sind nicht wir." Verzweifelt sah ich meine ältere Schwester an, strich ihr durch die Haare, die sie deutlich kürzer trug. Lange sah sie mich einfach nur an, dann wich sie meinem Blick kurz auf, starrte auf den See, der sich vor uns erstreckte. Es dämmerte, weshalb sich die Lichter zu spiegeln anfingen. Nie hatte ich es von dieser Seite aus gesehen, aber es war wunderschön. „Du hast Recht", murmelte Nya leise, setzte sich in den Sand, zog mich mit sich hinab. Ohne zu zögern nahm ich sie in meine Arme. „Wir sind mehr als sie, es wäre uns unwürdig, uns auf ihr Level zu begeben", ihre Stimme ging im Rauschen der Wellen beinahe unter. Ich wusste, dass ich Recht hatte, auch wenn es mir weh tat, Nya leiden zu sehen. Wir waren mehr als nur ein Mensch. Wir waren so viel mehr. Wir trugen das Wasser in uns, eine Magie, die kein Mensch jemals verstehen konnte.

Das Monster in mirWhere stories live. Discover now