25. At the end of the Green Line

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Nari

„Die da", sage ich.

Jun sammelt die Steine ein, auf welche ich gezeigt habe. Sie sind etwa so gross wie das Ei, welches ich heute Morgen zum Frühstück haben durfte.

Gemeinsam machen wir uns auf den Weg in die Schule. Dort haben wir nämlich eine grosse Box mit wasserfesten Stiften in allen Farben. Ich will meinen Stein möglichst hübsch verzieren.

Jun lässt meine Hand nicht los, während wir den Friedhof hinter uns lassen.

Knox hat ein Grab zwischen zwei knorrigen Kastanienbäumen bekommen, ganz nahe am Wasser.

Es ist der schönste Platz am Teich.

Jun hat Noah darum gebeten, sie dort zu begraben, weil sie das Wasser so sehr liebte.

In ihrem Pulli hängt noch der Geruch des Meeres. Jedes Mal, wenn ich die Nase an den übergrossen Ärmel hebe und daran schnüffle, habe ich das Gefühl, dass ihr Duft langsam verschwindet. Ich habe Angst, dass er irgendwann gar nicht mehr da sein wird.

So wie Knox.

Sie hat mir meinen Bruder zurückgebracht und ist selbst nicht heimgekommen.

Als Jun mit ihr in seinen Armen durchs Tor gerannt ist und geschrien hat, kamen Noah und die anderen sofort zur Hilfe.

Doch Knox war schon tot.

Jun konnte sie nicht mehr retten. Niemand konnte es.

Sie ist einfach gegangen.

Ich habe lange geweint, aber es war Jun, den es härter getroffen hat. Ich glaube, er hat sich Vorwürfe gemacht. Er wollte sie zurückholen. Er wollte, dass wir hier zusammen leben. Er, Ruby, Knox und ich.

Ich wollte das auch.

Heute – drei Tage danach – geht es Jun etwas besser. Er hat mit mir gefrühstückt.

Nur wir beide waren bei Knox' Begräbnis dabei. Die anderen Leute aus dem Refugium kannten sie nicht und ich glaube, sie wollten uns alleine trauern lassen.

Es war Juns Idee, zwei Steine vom Teichufer mitzunehmen. Einen für mich und einen für ihn, damit wir Knox immer mit uns tragen können. Damit wir sie niemals vergessen.

Steine gibt es schon seit immer und sie halten tausend Jahre lang — und Steine passen in jede Hosentasche.

„Was willst du auf deinen malen, Jun-oppa?", frage ich meinen Bruder, als wir ins Klassenzimmer treten und uns an einen Tisch setzen.

Er starrt mit leerem Auge auf seinen Stein, dreht ihn zwischen seinen Fingern. Sein kaputtes Auge wurde mit einer Klappe zugedeckt. Er sieht aus wie ein Pirat. Für einen Moment fürchte ich, dass er nicht weiss, was er mit seinem Erinnerungsstein machen soll, doch dann huscht ein müdes Schmunzeln über sein Gesicht.

„Ich glaube, ich werde etwas schreiben", meint er und nimmt sich einen schwarzen Acrylstift aus dem Kasten. „Und was malst du?"

Ich kremple die viel zu grossen Ärmel meines grauen Pullovers hoch, schnappe mir einen gelben Stift und schenke Jun ein strahlendes Lächeln. Ich weiss bereits, wie ich mich an Knox erinnern werde.

Als das, was sie für mich war.

„Eine Superheldin!"


ENDE

The Green LineWhere stories live. Discover now