20. A first row ticket to Fenway Park

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Jun

Ich werde geschüttelt.

„Hey, pssst. Jackie Chan!"

Mein Kopf dröhnt und das liegt nicht an der Wunde, die im Takt meines Pulses an meinem Kopf pocht, sondern an dem unsäglichen Lärm um mich herum.

Zudem ist mir kalt, verdammt kalt.

„Ich würde jetzt die Augen aufmachen, wenn ich du wäre, sonst wirst du heute schon zu Chop Suey verarbeitet."

Meine Lider lassen sich nur mit der allergrössten Mühe öffnen. Die Welt ist rot verfärbt.

Ich blinzle, denn das kann nicht echt sein. Der merkwürdige Farbton bleibt allerdings.

Ein Gesicht erscheint über mir. Es gehört einem Mann in den Mittfünfzigern. Sein grau melierter Bart ist buschig, die Haare kleben ihm fettig und strähnig am Kopf und ihm fehlen mehrere Zähne. Anhand der Haut, die ihm vom Hals hängt, erkenne ich, dass er einst einen breiteren Körperumfang mit sich herumgetragen haben musste. Die Apokalypse hat sich ein beachtliches Stück seines Gewichtes genommen.

„Steh auf, Jackie!", zischt er. Immer wieder hebt er den Blick und schaut auf etwas, das ich nicht sehen kann.

Ich liege rücklings am Boden auf arschkaltem, festgetrampeltem Schnee. Meine Lederjacke habe ich nicht mehr an. Der Himmel schwebt als eine Mischung aus weissgrauen Wolken über mir und obwohl es ein durchaus unpassender Moment ist, atme ich erleichtert aus.

Ich befinde mich nicht mehr im Tunnel. Hier gibt es keine Wände, die mich erdrücken könnten.

Mit aller Willenskraft, die in mir steckt, zwinge ich mich in eine aufrechte Sitzposition.

Die Welt beginnt sich sogleich zu drehen, als sässe ich in einem Karussell, das in Höchstgeschwindigkeit um seine eigene Achse wirbelt. Die Übelkeit überkommt mich. Ich werfe mich vornüber und würge mein Essen hoch.

Als ich nur noch spucke, packt mich jemand an den Schultern, reisst mich zurück und zieht mich über den Boden. Ich sehe nicht, wer mich geschnappt hat, doch ich trete mit den Beinen und fuchtle mit den Armen.

Es hilft nicht.

Ich krache mit dem Rücken gegen einen Metallpfahl, sodass es mir die Luft aus den Lungen stösst. Schnee wird mir in den Mund gestopft, bis ich husten muss.

„Wasser", erklärt mir eine jungenhafte Stimme. „Es muss auf der Zunge schmelzen."

Ich warte, bis das kalte Puder zu Wasser wird und schlucke sodann dankbar. Mir war nicht bewusst, wie durstig ich bin. Abermals versuche ich, zu sehen, aber meine Augen können den Fokus noch immer nicht richtig halten.

Mit dem Handballen reibe ich mir die pochende Schläfe und fahre vor Schmerz zusammen. Blut klebt an meinen Fingern.

„Fuck!"

Der rote Bastard hat heftig zugeschlagen.

Das könnte erklären, warum meine Sicht getrübt ist. Meinen verdammten Augapfel haben sie lädiert! Glaskörperblutung, vermutlich.

Ich könnte erblinden.

„Bleib da sitzen", höre ich den älteren Mann sagen.

Ich blicke um mich. Es dauert einen ganzen Moment, bis sich mein Sichtfeld mindestens halbseitig verschärft. Wenn ich das linke, verletzte Auge zukneife, dann geht es.

Vor mir, etwa an der Stelle, an welcher ich soeben noch gelegen habe, knien insgesamt drei Gestalten und kratzen am Boden herum. Sie murmeln und wimmern und beginnen sich gegenseitig zu schubsen.

Was machen die da?

Als hätte der Mittfünfziger gehört, was ich denke, antwortet er für mich: „Du hast denen gerade ein Festmahl serviert."

Sein Ton ist verurteilend. Ich vermute, dass er mit jedem so spricht.

Mein Magen rebelliert vor Ekel und ich muss den Blick von den ausgemergelten Menschen abwenden.

Wir wurden eingezäunt, stelle ich fest, und befinden uns in der Mitte des Baseballstadions, auf dem Spielfeld in einer Art Viehgehege. Um uns herum wurden Zelte und sogar ganze Hütten aufgezogen. Sie reichen bis zu den hohen Tribünen von Fenway Park und umringen uns in einem 360 Grad Radius.

Die Roten haben sich hier eine wahre Stadt in der Stadt errichtet und könnten hinsichtlich der Bevölkerungsdichte Seoul wahrscheinlich Konkurrenz machen.

„Hast auch ein erste Reihe Ticket gelöst?", höre ich den älteren Typen scherzen.

Ich antworte ihm nicht, sondern lasse den Blick über mein Gefängnis schweifen.

Eine Flucht kommt nicht in Frage. Der Zaun wurde mit Stacheldraht verstärkt und ist mindestens sechs Fuss hoch. Drei Wachen patrouillieren entlang des Geheges, während in den Gassen, die sich wie ein Netz durch die Unterkünfte ziehen, die Roten ihren alltäglichen Beschäftigungen nachzugehen scheinen.

Es gibt hier nur Männer, weit und breit keine Frauen.

Ich bin froh, dass Nari nicht hier ist und ich hoffe bei Gott, dass Ophelia mit ihr weitergegangen ist und dass sie mich nicht suchen kommt. Wenn es um die Sicherheit meiner Schwester geht, dann waren wir uns immerhin einig.

Ich hoffe, Ophelia hält ihr Versprechen.

Das hier ist eine Todesfalle. Hier kommt niemand mehr lebendig raus, der kein Red Eagle ist.

Knox - Ophelia wird das wissen.

Plötzlich wird das Gatter geöffnet.

Zwei breite Kerle stampfen herein. Sie sehen aus wie Viehtreiber. Einer hält ein Lasso, der andere einen Schlagstock.

Die drei dünnen Gestalten am Boden schreien in Panik auf, rappeln sich auf die Beine und springen davon, aber einer wird geschnappt. Seine Verzweiflung hört man nicht nur in seiner schrillen Tonlage, man sieht sie ihm auch seinen weit aufgerissenen Augen an. Er wird an den Füssen gefesselt und über den Schnee geschleift.

Das Gatter kracht zu und das Kreischen wird leiser.

Ich muss leer schlucken, denn meine Kehle ist wieder trocken geworden.

„Ab ins Fleischhaus", höre ich den älteren Mann sagen.

„Ich dachte, die geben einem vorher noch die Wahl, Mitglied zu werden", bringe ich hervor.

Der Junge, der meine Lederjacke trägt, setzt sich neben mich in den Schnee. Ich werfe ihm einen misstrauischen Blick zu, weshalb er sich als Santi vorstellt - kurz für Santiago.

„Das machen die schon lange nicht mehr", murmelt er. Santiago deutet auf die vielen Baracken und behelfsmässig gebauten Hütten um uns herum. „Ihnen ist der Platz ausgegangen und sie haben Mühe, ihre Männer mit genügend-" Er hält einen Moment inne und schüttelt sich. Entweder vor Kälte oder Abscheu. „- Nahrung zu versorgen."

„An dem Kerl hing aber nicht mehr viel dran", wende ich ein. Der war nur noch Haut und Knochen. Sein Gesicht war eingefallen.

Der ältere Mann lacht. „Schon mal etwas von Knochenbrühe gehört, Jackie Chan? Du solltest dich doch mit Suppen auskennen."

Ich blecke die Zähne und funkle ihn an. „Ich bin kein scheiss Chinese, also nenn mich nicht Jackie Chan!"

Der Mittfünfziger starrt unbeeindruckt auf mich herab. Seine Augen sind so leer wie jene von Ophelia.

„Was spielt das jetzt noch eine Rolle?", grummelt er. „In weniger als zwei Tagen landest du eh als Steak auf dem Teller - wie wir alle."

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Author's Note:

Jun lebt.

Noch.

The Green LineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt