14. The sun and the moon

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Ophelia

Ich kann nicht mehr, Sam.

Wirklich nicht.

Ich wollte dort am Pier neben dir einschlafen. Der Alkohol hat geholfen, hat alles taub gemacht, aber jetzt kommt das Leben zurück in meinen Körper und ich will das nicht.

Ich will es nicht.

Jun und Nari hüllen mich in einen Kokon aus Wärme. Es brennt auf meiner Haut und unter meinen Rippen.

Ich hätte die ganze Flasche saufen sollen. Die Welt ist zu klar, selbst wenn sie sich dreht.

Nari schaut mich mit grossen Augen an. Eine stumme Bitte.

Erzähle uns von Sam.

Sie wollen mehr über dich erfahren, aber ich kann nicht. Ich kann das nicht. Alles in mir schreit, es nicht zu tun, nichts zu sagen, sondern die Zähne zusammenzubeissen und verdammt nochmal zu schweigen.

Jun stupst mich an. „Komm schon", sagt er. „Erzähle es Nari."

Der verfluchte Alkohol hat meinen Schutzwall zum Einstürzen gebracht, anstatt mich umzubringen. Ich schlucke den bitteren Geschmack in meinem Gaumen herunter.

„Wie war er?", höre ich Nari fragen. „Sam, dein Bruder."

Es ist wie eine Ohrfeige. Dass sie deinen Namen kennt. Dass sie ihn einfach so aussprechen kann, ohne dass es ihr Innerstes zerreisst.

Dafür kann sie nichts. Das ist mir schon klar.

Nari ist unschuldig.

Sie darf wissen, dass du es auch warst, also gebe ich ihr das, was sie will. Ich gebe dich aus dem schwarzen Käfig meines Herzens frei.

Meine Zunge ist schwer, als ich zu sprechen beginne.

„Kennst du dieses Gefühl nach einem Sommergewitter?", frage ich. „Diese Leichtigkeit, die in der Luft schwebt? Wenn es nach frischem Regen und dampfendem Asphalt riecht und man denkt, das Leben würde wieder neu beginnen?"

Nari nickt und ich spüre, wie Jun es auch tut.

„Sam war dieses Gefühl."

Du warst die Sonne und ich der Mond, der sich in deinen Strahlen gewärmt hat, um die Kälte am Rücken nicht zu spüren. Du warst mein erster Spielkamerad, mein bester Freund und grösster Komplize, mein Vorbild und mein Spiegelbild. Du warst mein grosser Bruder – unsere Seelen verwoben, unzertrennbar, zu zweit immer unbesiegbar.

Ein Schluchzen erfasst mich.

Jun zieht mich enger an seine Brust. Ich spüre die Haut seines Oberarmes auf mir. Er ist überall. Und er ist warm.

Heute werde ich es zulassen. Morgen kriegt er dafür Prügel.

„Sams Herz stand weiter offen als eine Kirchentür", bringe ich noch hervor. „Es gab für jeden einen Platz darin."

Nari drückt ihr Gesicht ganz nahe an meines. Sie lächelt. „Dann war er ein guter Mensch."

„Er war der Beste."

Mein Kinn zittert. Der Alkohol befördert mehr Tränen in meine Augen und ich heule wieder. Ich hasse es, vor Menschen zu weinen, aber in diesem kleinen, weichen Nest, das die beiden für mich gebaut haben, kann ich mich nicht mehr zusammenreissen.

Sie lassen es zu, dass ich dich vermisse und bleiben dabei still, denn sie wissen, dass es nichts gibt, was dich zu mir zurückbringen würde. Die einfachen Regeln des Todes, die eigentlich jeder versteht, nur niemand akzeptieren will.

The Green LineWhere stories live. Discover now