9. Jenny's treasure

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Ophelia

Die Jenny schwankt stark von Backbord zu Steuerbord, als ich auf ihr Heck springe.

Schnell ziehe ich meinen rechten Stiefel aus, drehe ihn um, sodass der Schlüssel, den ich darin versteckt habe, herausfällt. Der eisige Ostwind peitscht mir um die Ohren, lässt meine Muskeln im kläglichen Versuch erzittern, meinen Körper vor dem sicheren Erfrierungstod zu bewahren.

Ich muss mich verdammt nochmal beeilen!

Mit steifen Fingern öffne ich das Schloss, schlüpfe in die Kajüte und verriegle die Luke sogleich wieder hinter mir.

Es riecht nach Staub und Motorenöl.

Der Geruch, der immer an dir hing, wenn du nach einer Spritzfahrt nach Hause kamst. Ich schliesse für einen Moment die Augen und lasse zu, dass sich mein Herz zusammenzieht.

Als es vorüber ist, richte ich mich auf.

Den Schnee klopfe ich mir von meiner Kapuze und von den Schultern. Wegen dieses elenden Wetters musste ich regelrecht zum Dock sprinten und alles nur, weil der Schnee auf dem Asphalt nicht mehr schmelzen wollte und man meine Fussspuren hätte sehen können.

So mörderisch, wie mich der Streuner angeschaut hat, hätte ich es ihm sogar zugetraut, dass er mir nach draussen gefolgt wäre, nur um mich aus Rache ins Meer zu schubsen. Aber ich musste nach ein paar Blöcken feststellen, dass er mir nicht nachgejagt ist.

Es ist auch wirklich nicht die Sorte Wetter, bei welchem man sich auf der Strasse aufhalten möchte.

Mir blieb leider keine Wahl. Ich musste irgendeinen Unterschlupf finden.

Jetzt bin ich hier. Auf deiner Jenny.

Ich hauche meinen Atem auf die eiskalten Finger. Obwohl ich in deinem Boot vor Wind und Wetter geschützt bin, werde ich selbst hier drin erfrieren können, wenn ich nicht bald irgendetwas finde, das mir bei der Erhaltung meiner Körpertemperatur hilft.

Die Heizung funktioniert nur mit laufender Maschine und Elektronik. Die durchgebratenen Leitungen machen allerdings jeglichen Funken Hoffnung zunichte. Da springt nichts mehr an und ein tuckernder Motor würde zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Das Letzte, was ich brauchen kann, sind die Blauen oder die Roten, die hier antanzen, um mir die Luke einzubrechen.

Trotz der Dunkelheit in der Kajüte finde ich die Wolldecke und wickle sie um meinen Oberkörper, verkrieche mich in die Koje und schliesse die Augen für einen Moment.

Nur etwas ausruhen.

Schlafen werde ich heute eh nicht mehr können. Es ist verdammt nochmal zu kalt dafür und das Bild dieses ausgehungerten Mädchens will nicht mehr aus meinem Kopf.

Sie wollte mir die Erdnussbutter schenken, obwohl sie sie selbst viel dringender benötigte als ich.

Wie kann ein kleines Kind so selbstlos sein und das in einer Welt, die uns alle zu elenden Egoisten gemacht hat?

Ihr Bruder muss schon seit einer langen Zeit mit ihr zusammen im Quincy Market verharren. Er scheint sich nicht vom Fleck rühren zu wollen, und das, obwohl er selbst behauptet hat, dass dieses Refugium in greifbarer Nähe ist. Nur ein paar Meilen entlang der grünen U-Bahnlinie und schon wäre seine Schwester in Sicherheit.

Warum er noch hier ist, in diesem elenden Loch, so nahe an der roten und blauen Grenze, verstehe ich wirklich nicht. Es ist viel zu gefährlich für ein Kind und ganz besonders für ein Mädchen.

„Verdammter Feigling", knurre ich und werfe die Decke von meinem Körper.

Dieses blöde Ding spendet mir eh keine Wärme, also beschliesse ich, mich zu bewegen, bis mir warm wird. Ich mache ein paar Kniebeugen und lasse mein Herz die Arbeit erledigen. Es pumpt das Blut in meine starren Finger, in meine kalten Oberschenkel. Langsam, aber es wirkt.

Mittlerweile haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Ich erkenne das Innere deines Bootes und nachdem ich die fünfzig Kniebeugen gemacht habe und ich merke, wie mir schon wieder wärmer geworden ist, beginne ich zu stöbern.

Ich war seit dem Sonnensturm nicht mehr hier. Du hattest mir den Schlüssel dazu in meinen Stiefel gestopft und irgendwas von „im Notfall" gelabert.

Das ist aber schon über ein Jahr her und ich hatte es total vergessen — bis ich von Jun aus dem Quincy Market gekickt wurde und mich das Salz der Meeresbrise an den Hafen gelockt hat.

Mein Blick fährt über das spärliche Mobiliar, das Bett, das gleichzeitig auch Abstellraum für Bojen und Schwimmwesten ist, die winzige Kombüse mit einem Wasserhahn und Elektroherd und der Esstisch, an welchem gerade mal zwei Menschen Platz haben.

Hattest du nicht dort unter der langen Sitzbank immer einige Snacks versteckt?

Snickers waren deine Lieblinge. Ich habe sie dir ständig geklaut.

Ich muss bei dem Gedanken grinsen, wie du die Dinger in dich reinstopfen konntest, ohne dass es sich als Hüftgold an dir zeigte, währenddessen ich mir ein drittes Doppelkinn von nur einem Riegel hätte wachsen lassen können.

Die Klappe der Sitzbank knallt auf, als ich sie öffne.

„Was zum Teufel?"

Fassungslos starre ich auf die Nische und ihren Inhalt herab und nehme den Zettel heraus, der darüber liegt. Das ist deine krakelige Handschrift.

Deine Handschrift.

Du hast mir eine Nachricht hinterlassen!

Ich lese die Zeilen. Gierig, als könnte ich dich damit zurückholen, als würden sie mich zu dir bringen oder dich wieder zum Leben erwecken.

Doch das tun sie nicht. Natürlich nicht, es sind bloss tote Buchstaben. Ich bin alleine in dieser Welt.

Meine Hand mit dem Zettel lasse ich sinken, als ich deine Botschaft gelesen und verstanden habe. Ich lege den Kopf in den Nacken und schliesse die Augen.

„Das kann nicht dein scheiss Ernst sein, Sam!", schreie ich an die Decke.

Ich hoffe, du hast mich auf deiner Wolke gehört.

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Author's Note:

Was denkt ihr, stand da auf dem Zettel? 

FYI: Ich habe beschlossen, die Kapitel meiner ONC Geschichte zu veröffentlichen, ohne sie auf meinem Board anzukündigen. Damit verhindere ich, dass ich zu viele meiner Follower zuspame. 

Für euch treuen Leser*innen bedeutet das aber, dass ihr sie einfach bei euch in eurer privaten Bibliothek hinzufügen müsstet, um keine Aktualisierungen zu verpassen. 

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